Die Namenlosen
Bulgarien zählt zu den ärmsten Ländern Osteuropas. Die größte Minderheit dort bilden die Sinti und Roma. Sie leben nach wie vor unter Bedingungen, die nur schwer fassbar sind.
An der Ecke sitzt einer. Einer von ihnen. Einer von den Namenlosen. Geschätzte 307.000 leben hier, in Bulgarien. Damit ist Bulgarien nach Rumänien das Land mit den meisten Namenlosen in Europa. Kaum werden sie wahrgenommen und wenn, dann als Problem, nicht als Mensch.
Sie sind dreckig, sie stehlen. Halt deine Tasche fest, wenn einer von ihnen neben dir steht. Die wollen auch gar nicht arbeiten. Das sind Taugenichtse, verlogen noch dazu. Diese Meinung zieht sich durch alle Bildungsschichten, selbst sich selbst als tolerante Menschen bezeichnende Leute sehen das so. Das sind Zigeuner. Streuner. Die wollen auch gar nicht ein normales Leben führen.
Und so leben die Sinti und Roma in Bulgarien ihr Leben als extreme Randgruppe, die es aufgegeben hat, die aufgegeben wurde. Man ignoriert sie, diese Menschen mit den dunklen, undurchdringlichen Augen und der bronzenen Haut. Man findet sie, am Bahnhof, wo sie Klebstoff schnüffeln, auf der Einkaufsmeile, wo sie Stunden lang bettelnd auf den Knien verhaaren, mit ausgestreckter Hand und leerem Blick, an der Straßenecke, an der die jungen Männer die Alkoholflasche kreisen lassen.
Das ist wieder einer, durchwühlt den Müll, und ein anderer da, auf dem Karren mit dem alten Gaul und dem Altmetall auf der Ladefläche. Siehst du den kleinen Jungen, der am Schaufenster steht, bis seine Mutter ihn wegzerrt, während sie mit der anderen Hand einen rostigen Kinderwagen vor sich herschiebt und ihre anderen zwei Kinder im Blick behält. Sie ist jung, vielleicht sechsundzwanzig, doch ihr Gesicht sieht verbraucht aus, verhärmt. Wie ist es ihr ergangen? Wie war ihr Leben so? Wer weiß das schon!
Sie ist eine von den Namenlosen. Sie lebt ein Leben am Minimum, nicht mal mehr am Rand der Gesellschaft, sondern meilenweit weg davon.
Versuch doch mal einen Bulgaren nach diesem Leben zu fragen. Sie werden dir nicht viel erzählen können, denn sie kennen es nicht. Haben sich auch nie die Mühe gemacht es kennen zu lernen. Du wirst die altbekannten Vorurteile zu hören bekommen und der Satz, die wollen es ja so.
Eine Rechtfertigung, eine Legitimation, dafür, dass man sie namenlos bleiben lässt. Sie leben an den Stadträndern, in heruntergekommenen Hütten, wenn überhaupt, in großen Familien. Sie haben nichts außer sich. Die Familienbande sind stark, die Frauen gründen früh ihre eigene. Meist sind sie überfordert. Das Leben für die Kinder ist nicht leicht, meist sprechen sowohl Vater und Mutter dem Alkohol stark zu, die Hand sitzt leicht. Die Eltern geben ihre althergebrachte Erziehung weiter.
Selten besuchen die Kinder die Schule, und wenn sie später wirklich mal Arbeit finden, dann nur einfache, als primitiv angesehene Arbeit, Straßenkehrer, ungelernter Handwerker zu Hungerlöhnen. Ja, sie stehlen, ja, die Kinder fangen früh damit an, aber, da beginnt der Teufelskreis, man gibt ihnen keine andere Option. Man verachtet sie, man schaut auf sie herab. Wenn sie nicht stehlen haben sie nichts zu essen, arbeiten sie, dann haben sie auch nicht wirklich mehr, denn das Geld reicht zum Sterben nicht, aber zum Leben erst recht nicht. Die Arbeitslosigkeitsquote unter ihnen liegt bei geschätzten 70%.
Die sporadischen Maßnahmen der Regierung zu ihrer Integration verlaufen ins Leere. Und so wandeln sie wie Schatten umher in einer Gesellschaft, die die Augen vor ihrer Not verschließt. Sie trinken, rauchen, stehlen, essen, atmen, haben Sorgen, haben Ängste, alles in allem wollen sie auch nur leben. Und so leben sie, in dem Maße, wie man sie leben lässt. In Umständen, die man nicht ändern will, die sie nicht ändern können. Sie haben sich daran gewöhnt, sie haben aufgegeben. Sie bleiben stumm. Und so bleiben sie Namenlos.
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