Die Kaffeemaschine
Warum dieser Titel, fragen Sie sich? Nun, die Kaffeemaschine, um die es geht, steht sinnbildlich für den ersten Eindruck am Tag der Ankunft.
Aus Prag kommend, sind wir gut in Náchod angekommen. Begrüßt werden wir von einer der Plattenbausiedlungen. Hochhäuser aus Sowjetzeiten. Solche Bausünden findet man in Deutschland nur noch selten. Hier sind sie gang und gäbe. Auch als Dauerlösung. Eine Tankstelle zu unserer Linken. Sprit ist günstig, jetzt fehlt nur noch ein Auto/Motorrad. Geradeaus geht es Richtung Stadtkern. Ein winziges, verbleibendes Stückchen Altstadt wird sichtbar. Wir steuern direkt auf den Marktplatz zu. Eine große Kirche steht mitten auf dem Platz. Autos sind hier erlaubt, wen wundert’s im fahrrad- und fußgängerfeindlichsten Land, das ich bisher bereist habe. Noch bin ich in einem Kraftfahrzeug. Irgendwo in dieser Gegend soll die Adresse sein, die mir mitgeteilt wurde. Das wäre natürlich ein Glücksfall, hier in der schönen Altstadt irgendwo unterzukommen. Wir stellen das Auto ab und erkunden die Gegend zu Fuß. Die richtige Straße haben wir bereits. Jetzt fehlt nur noch die Hausnummer. Die Suche bleibt erfolglos. 240 gibt es, 245, aber keine Nummer 242. Ich weiß ja nicht, wie die Tschechen hier bei der Nummerierung vorgehen, aber so schwer kann das doch nicht sein. Da sind die griechischen Grundbücher genauer. Die angebliche Wohnadresse finden wir nicht. Stattdessen aber die Niederlassung der Organisation Déčko, die die ganze Freiwilligenarbeit in der Umgebung koordiniert. Daher gehen wir einfach mal hinauf zum Gebäude. Dieses sieht interessant aus. Ein eigenartiger Stil. Erinnert mich etwas an brutalistische Bauten der 1970er. Nicht so in die Extreme getrieben wie etwa bei Le Corbusier. Trotzdem viel unverputzter Beton, kantige Formen, dann aber auch wieder die Säulen, die mich an das Schicksalshaus aus einem Horrorfilm aus Texas erinnern. Es wurde allerdings auch mit Formen gespielt. Hier ein Zylinder, da ein Quader. Mehrere Körper wurden berücksichtigt, sind nicht in additiver Weise kombiniert, jedoch auch nicht integriert genug, um nicht unangenehm aufzufallen. Es könnte Strukturalismus sein, jedoch bin ich mir nicht im Klaren darüber, ob diese Analyse nicht einfach ein Schönreden der Realität ist. Im Nachhinein lässt sich immer behaupten, es steckten große Gründe hinter jedem Aspekt. Ob wirklich so viele Hintergründe existieren, darf man in jedem Fall anzweifeln.
Mein Vater und ich gehen die Steintreppen hinauf. Es sind viele, aber schon bald stehen wir vor dem mächtigen Haus. Die Türen sind verschlossen, doch man hört Besteck klappern, es sind Leute am Essen. Ich deaktiviere den Flugmodus in meinem Telefon und rufe eine der Freiwilligen an. Sie sagt, wir sollen zum Bahnhof kommen. Da würde sie warten. Tschechische Organisation auf ihrem Höhepunkt. Sichtlich genervt gehe ich die Treppe hinab, wo uns eine Frau entgegenkommt. Sie fragt mich, ob ich denn nicht Niklas sei. Ich, erstaunt durch diese Frage, bestätige ihr meine Identität. Wie sich herausstellen sollte, war das Katka, meine “Chefin” und gleichzeitig eine Angestellte von Déčko Náchod. Sie käme gerade von ihrer Mittagspause zurück. Eine glückliche Fügung. Wir werden in einen der Räume im Déčko-Gebäude gebeten, den zukünftigen Aufenthaltsraum der Freiwilligen, überall mit bunten Wandmalereien verziert, vollgestellt, etwas chaotisch, wie eben der ganze Freiwilligendienstkomplex. Ich erfahre meine neue Telefonnummer, Wohnadresse und den Plan für die nächsten Tage. Erleichterung macht sich breit nach Wochen der Fehlinformation. Während ich noch über die Unterlagen gebeugt bin, stößt Daria dazu. Eine Ex-Freiwillige und jetzige Arbeiterin für Déčko. Sie stammt ursprünglich aus Polen, lebt aber nun ebenfalls in Náchod. Um genau zu sein, nur ein paar Meter von meiner Wohnung entfernt. Sie bietet an, uns den Weg zu zeigen. Wenige Minute später verlassen wir das Haus und laufen gemeinsam zum Auto. Es geht wieder weg vom Marktplatz in Richtung Hauptstraße. Keine Altstadtwohnung. Schade. Stattdessen führt uns Daria zu einer Plattenbausiedlung. Riesige Häuser mit unzähligen Wohnungen darin. Typischer Ostblock-Kitsch eben. Die Nummer 1599 ist es. Meine Obsession mit Zahlen kann fortleben. Es erinnert mich an den Ferrari 599 GTO, einen der besten Ferraris aller Zeiten, wenn es nach mir ginge. Wir werden von einer deutschen Freiwilligen empfangen. Pia kommt aus Berlin, was man auch sofort hört, und zeigt mir die Wohnung, in der sie zu diesem Zeitpunkt noch für ein paar Tage wohnt, mein Zimmer und einen Ort, wo ich mein vieles Gepäck abstellen kann. Viel ist kein Ausdruck. Vier große Reisetaschen, zwei Rucksäcke, zwei Bananenkisten und dann sind da auch noch die Skier, Skistöcke, Skischuhe und mein Fahrrad. Aus einer der Kisten strahlt in der Sommersonne die blitzblank polierte Kaffeemaschine, was erst einmal amüsiert zur Kenntnis genommen wird. Es war einfach der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ein gänzlich ungewöhnliches Mitbringsel für einen Freiwilligen. Es musste jedoch sein. Mit einem guten Kaffee kann man mich glücklich machen. Der alltägliche Morgentrunk wird nicht dieser edlen Maschine entfließen, zumal die Preise für so eine Kapsel irrwitzig hoch sind. Der motivierende Mittagskaffee wird es sein, den ich aus diesem klavierlackschwarzen Kasten zapfe. Schwarzes Gold für den müden Denker.
Die acht Gepäckstücke müssen nun mehrere Stockwerke nach oben. Es gibt einen Aufzug. Zehn Jahre alt, 320 kg Kapazität. Wird das reichen? Zum Glück habe ich die Hanteln daheim gelassen. Nach und nach schaffen wir alles in die winzige Wohnung. Eine Ecke meines zukünftigen Zimmers ist nun jedenfalls schon einmal völlig zugestellt. Zuvor lebte in diesem Zimmer eine Litauerin namens Indre. Anhand ihres Aussehens hätte ich sie eher Frankreich zugeordnet, weshalb ich recht erstaunt bin, als sie mir ihre tatsächliche Heimat verrät. Litauen, das interessanteste Land im Baltikum. Neben Indre lerne ich auch meinen Mitbewohner für die nächsten zwei Wochen kennen. Edgars aus Lettland. Ehemaliger Koch, Lehrer, Künstler und schon 25 Jahre alt. Das Bett in dem Zimmer hat er bereits für sich beansprucht. Nachdem Lettland eine noch kleinere Kolonialgeschichte als Deutschland hat, hat er dieses Stück Land jedenfalls schon mal erfolgreich an sich gerissen. Ich nehme mir das Sofa, eine schlechte Wahl, wie sich später herausstellen sollte. Dann verabschiede ich mich auch schon wieder, um mit meinen Eltern essen zu gehen. Wir fahren erst aus Náchod raus, dann wieder herein und parken wieder genau an der gleichen Stelle wie vorhin. In direkter Nähe zum Parkplatz ist ein Restaurant. Es sieht gut aus, deshalb gehen wir auf die zugehörige Terrasse und setzen uns. Die Bedienung spricht tatsächlich ein wenig Deutsch, was uns enorm weiterhilft. Die tschechische Karte bringt einen nämlich zum Verzweifeln. Während man in Italien oder Frankreich ja noch einigermaßen ableiten kann, um was es sich handeln muss, ist man hier in Tschechien ohne Übersetzer komplett verloren: Zmrzlina. Puh, sind das viele Konsonanten. Wie kann man das überhaupt aussprechen? Schafft man es, so bringt die Bedienung einen Eisbecher. „Zmrzlina” bedeutet nämlich Speiseeis. Bei den anderen Gerichten ist ebenfalls Rätselraten angesagt. Wortfragmente erkenne ich. Hovězí guláš s domácím knedlíkem. Immerhin ein Wort verstehe ich: Gulasch. Der Rest wird schon irgendwie genießbar sein, was auch immer es sein mag. Also bestelle ich dies. Zudem ein Glas Kofola. Kurz zur Begriffserklärung. Kofola ist sozusagen die sowjetische Variante von Coca-Cola. Damals mangels Westwaren erfunden, hat es sich bis heute gehalten. Ein schwer zu beschreibender Geschmack. Es schmeckt nicht so süß wie echte Coca-Cola, sondern eher etwas malzig wie Rivella aus der Schweiz oder Bionade aus Deutschland. Außerdem erinnert es mich an Cola-Mix, bei uns im Süden „Spezi” genannt, da eine eindeutige Orange-Note vorhanden ist. Sie müssen es selbst mal probiert haben. Mein Ding ist es nicht, aber die Tschechen lieben es. Auch das Essen kommt recht schnell. Wie erwartet Rindergulasch in Bratensoße mit Hefeknödeln dabei. Es schmeckt. Ich kann gar nicht genug davon kriegen. Auch meinen Eltern mundet das Mahl. Sollten Sie vorhaben, die Stadt Náchod mal zu besuchen, kann ich Ihnen dieses Restaurant wärmstens empfehlen. Es heißt Hotel U Města Prahy und ist, wie der Name bereits andeutet, ebenfalls ein Hotel. Diesbezüglich gibt es jedoch noch luxuriösere Lösungen.
Nach dem guten Essen gehen wir noch einkaufen, sodass ich in den paar Tagen nicht verhungere. Zudem haben wir das Auto dabei, was ungemein praktisch ist. Das merken Sie spätestens, wenn sie mal ohne einkaufen waren. Die Grundversorgung ist gesichert. Milch, Käse, Nudeln, Quark. Zu Trinken gibt es Wasser. Eigentlich wollte ich stilles. Blöd nur, wenn man kein Etikett versteht, nicht mal beim Wasser liegt man richtig. Auch die Farben sind nicht wie in Deutschland, dafür sollte man mal eine EU-Norm dafür einführen. Als Teilnehmer des Europäischen Freiwilligendienstes könnte ich diese Idee mal nach Straßburg oder Brüssel weiterreichen. Am besten an Martin Sonneborn, welcher für neue Normen stets offen zu sein scheint.
So habe ich ausgerechnet die Variante erwischt, die besonders viel Kohlensäure enthält. Harmlose Startschwierigkeiten in der Fremde. Wir fahren wieder zur Wohnung und meine Eltern setzen mich ab. Eine kurze Verabschiedung, dann laufe ich direkt mal zur falschen Türe. Die sehen sich aber auch alle zum Verwechseln ähnlich. Gut, dass ich nicht das Problem haben werde, hier nachts betrunken her finden zu müssen. Dann endlich die richtige Tür. Im Aufzug geht es hinauf. Ich klopfe. Indre macht auf. Sie lacht. Die Deutschen mal wieder, planerisch und vorsorgend. Jedem das Seine.
Nach und nach kommen auch die anderen Mitbewohner/innen an. Matthias aus Deutschland, den ich bereits beim Ausreiseseminar in Stuttgart kennenlernen konnte, kommt als erstes. Zu diesem Zeitpunkt sind seltsamerweise auch noch drei bisherige Freiwillige in der Wohnung. Leute, deren Freiwilligendienste ihr Ende finden, wo unsere beginnen. Ein fliegender Wechsel, ohne sich je kennengelernt zu haben. Insgesamt waren wir zu diesem Zeitpunkt dann acht Personen in der Zwergenwohnung. Matthias zeige ich erst einmal die Räumlichkeiten. Er ist noch mal 13 Zentimeter größer als ich, sodass für ihn die Wohnung erst recht klein wirken muss. Als ich gerade mit Edgars auf dem Balkon (Ja, es gibt einen winzigen Balkon) stehe, sehe ich, dass die Estin ankommt. Laura ist mit dem Flugzeug gekommen und hat deshalb auch nur ein Minimum an Gepäck dabei. Sie wird im Frauenzimmer (nicht die Internetseite, die stereotypischer nicht sein könnten, nennt sie doch als Kernkompetenzen „Frisuren-Trends”, „Mode-Trends” und Beauty-Videos”) bei Pia und Indre schlafen. Im Männerzimmer sind wir dann ebenfalls zu dritt. Die dritte Schlafmöglichkeit ist eine erstaunlich bequeme Matratze. Zu Beginn ist alles noch recht neu und wir machen die ganze Zeit neue Entdeckungen. Ich nehme erst einmal eine Dusche, welche erstaunlich groß ist und – Gott sei dank – eine Duschkabinentür hat und keinen dieser anhänglichen Duschvorhänge. Ein Alleinstellungsmerkmal. Die Dusche ist noch vollgestellt mit Duschgels, Shampoos, Spülungen, Kuren und was sonst noch allem. Es wundert mich stets, wie Frauen so viel Kosmetik nutzen können. Ich habe eine einzige Flasche dabei und diese reicht mir. Erst vor kurzem las ich, dass es angeblich typisch männlich sei, ein Kombiprodukt zu kaufen, das die Haar- und Körperwäsche vereint. Bis vor zwei Jahren dachte ich noch, Shampoo und Duschgel seien synonym. Das sagt eigentlich alles.
Ein schöner Duft füllt das Badezimmer, in welchem auch noch die Waschmaschine untergebracht ist. Der Vorteil einer solchen Miniaturwohnung ist die schnelle Aufheizung der Räume. Wer kennt nicht das Gefühl, beim Badeausflug im Hallenbad nach der heißen Dusche durch die Pforte zum kalten Umkleideraum gehen zu müssen? Dieses Gefühl, bei dem sich die Nackenhaare für gewöhnlich aufstellen, bleibt mir erspart. „Dampfbad” trifft es besser.
Nach der Dusche gehe ich wieder zurück in mein Zimmer, krame aus der Reisetasche ein paar Kleider heraus und ziehe sie mir über. Man möchte sich nur hinlegen, doch an solchen Tagen ist immer etwas los. Viel Erwähnenswertes geschieht zwar nicht, aber trotzdem war man bis in die Nacht am Werkeln. Menschen unterschiedlichster Kulturen wurden zusammengeworfen, man hat sich verständlicherweise viel zu erzählen. Eine scheinbar vertraute Atmosphäre herrscht vor. Vor ein paar Stunden wäre man einander noch fremd gewesen. Ein Phänomen, das prägend beim Freiwilligendienst sein wird. In ein paar Sätzen soll man ein ganzes Leben zusammenfassen. Das führt mitunter zu lustigen Situationen. Ach, du warst auch schon das, hast mal in Paris gelebt, ach und du hast sogar einen Universitätsabschluss? Unerwartet, aber gut zu wissen. Man spricht viel miteinander, geht zusammen essen, redet wieder und hat sich am Ende des Tages trotzdem noch nichts gesagt. In den frühen Morgenstunden endet dieser erste Tag. Ein beeindruckender Tag voller neuer Erfahrungen, die man im Eifer des Gefechts nie verarbeiten kann. Schon steht der nächste Tag, das nächste Erlebnis bevor. Reflexion? Undenkbar.