Die estnische Todsünde Nummer Eins
Im Oktober habe ich mich viel mit der Kultur und den Menschen Estlands beschäftigt. Deshalb möchte ich diesen Blogeintrag meinen Gedanken und Fragen widmen.
In meinem letzten Eintrag habe ich viel über meine Arbeit geschrieben. Nun möchte ich mich dem Land Estland und dessen Menschen widmen. Jeder vierte Einwohner Estlands besitzt einen russischen Hintergrund. Und diese Besonderheit Estlands ist allgegenwärtig. Überall begegnet einem die russische Sprache, ob auf der Straße, im Hausflur, im Supermarkt oder im Bus. Ein Beispiel dafür ist zum Beispiel, dass auf dem Klingelschild des Hochhauses, in dem ich wohne, alles auf Russisch geschrieben ist. Überhaupt das gesamte Viertel in dem ich lebe, besteht aus den typischen Ostblockbauten, in denen nach dem Zerfall der Sowjetunion viele Russen lebten.
Nun leben in vielen Wohnungen auch estnische Studenten, junge Familien oder Rentner, aber je tiefer man in das Viertel hineingeht, auf desto mehr russische Anwohner trifft man. Überhaupt kann man sagen, dass sich eine russische Parallelgesellschaft gebildet hat. Für mich war es zunächst sehr seltsam zu sehen, wie diese zwei großen Bevölkerungsgruppen zusammenleben und doch aneinander vorbei leben. Doch durch meine Arbeit bekomme ich einen Einblick in die russische Welt Estlands und durch meinen Alltag den Überblick über die estnische Welt. Ich persönlich finde es sehr schade, dass so eine extreme Trennung stattgefunden hat, jedoch bin ich als Außenstehende definitiv nicht in der Position über etwas zu urteilen. Ich kann lediglich beobachten.
Doch nun zu den Esten. Ende Oktober hatte ich mein On-Arrival Training mit ungefähr 20 anderen europäischen Freiwilligen. In diesen vier Tagen haben wir gemeinsam mit unseren Trainern viel über unser Jahr, unsere Vorstellungen, Erwartungen und Pläne gesprochen, aber auch Estland und die estnische Kultur kamen zur Sprache. Ein estnisches No-Go ist zum Beispiel das laute Reden in den Bussen und Straßenbahnen. Es wird nahezu wie eine estnische Todsünde angesehen. Man erntet direkt böse Blicke sobald man zu laut redet oder gar telefoniert. Der Bus gilt als wichtiges Transportmittel aber auch nur als das und nicht zum Austausch von Worten, was ein besonders großer Unterschied zu Deutschland ist (wie beispielsweise in dem Bus, mit dem ich immer zur Schule gefahren bin, konnte man das eigene Wort vor lauter Geschrei nicht verstehen).
Auch das Vorurteil, dass Esten kalt seien, wurde nur zum Teil bestätigt. Das stimmt so zwar ein bisschen, aber die Gründe dahinter lassen einen einiges besser verstehen. Die meisten Esten halten nichts von Chitchat, sie sind sehr direkt und geben dir nur die Antworten, nach denen du gefragt hast. Unsere Trainerin Kristi hat es uns so erklärt: Sie fällen in ihrem Kopf eine Entscheidung, die Entscheidung ob sie sich dir gegenüber öffnen oder nicht. Außerdem haben viele zwar nicht hunderte Bekannte, sondern eher eine Handvoll guter Freunde. Ja, Freundschaft ist hier sehr wichtig, sobald eine Verbindung entsteht, wird diese gepflegt und hält oft ein Leben lang. Um ehrlich zu sein finde ich all das sehr sympathisch. Aber auch ein paar meiner Meinung nach komische Angewohnheiten gibt es hier. Zum Beispiel schauen dir keine Leute auf der Straße in die Augen oder lächeln dich gar an. Der Grund dahinter ist, dass hier der Augenkontakt mit dem Aufbau eines echten menschlichen Kontakts assoziiert wird. Außerdem wechseln die Leute im Bus den Platz sobald ein freier Zweier da ist. Das kann mit dem berühmten „personal Space“ der Leute hier in Verbindung gebracht werden. Dieser ist ihnen sehr wichtig, sodass sie eher auf Abstand gehen.
Doch alles in allem fühle ich mich sehr wohl in Tallinn. Estland ist zwar ein Land über das man nicht viel weiß, dies jedoch zu unrecht. Estland ist ein Land, dass zwar nicht durch Größe heraussticht, aber auch ein Land, dass bei genauerem hin schauen, sehr viel Schönes birgt: in den Menschen und der Natur.
Ich hoffe ich konnte euch Estland und seine Menschen ein bisschen näherbringen.