Der schöne Schein. Ein Tag in York.
Was man alles während eines Tages in York erleben kann, davon weiß Johannson in gewohnter Ausführlichkeit zu berichten. Selbst wer nie zuvor vor Ort war, kann sich nach dieser Lektüre dort gut zurechtfinden. Vor allem, was die Anlaufstellen für kulinarische Genüsse angeht.
Sechster dritter... Jetzt ist es also soweit. Heute ist die Hälfte rum und ich habe nicht einmal mehr ein halbes Jahr übrig. Ein einziger trauriger Gedanke in einem Wochenende des Frohsinns, und er allein kann es einem beinahe verderben. Zum Glück sind es nur noch zehn Minuten bis zur Sonntagsausgabe der Simpsons. Bis dahin fange ich schon mal mit dem nächsten Eintrag an.
Schöne Städte die zweite. Nach Durham vorletzten Mittwoch war ich gestern in York. Vergleichsweise nah in Yorkshire gelegen nahm mich Paul mit, als er zu einem Treffen mit seinen Eltern fuhr. Ein wunderschöner Tag, dass gleich vorneweg, auch wenn mir morgens um ein Haar meine Croissants im Ofen verbrannt wären, aber da war ich aufgrund des freien Vortags bereits so in entspannter Wochenendstimmung, dass mich so etwas schon gar nicht mehr beeindrucken konnte.
Ein Genuss für Augen und Ohren
Ich verreise ja so gerne. Ja, wer hätte das von einem EVS-Volunteer gedacht! Los ging’s gegen viertel zehn; Paul meinte, „wie zur Collegezeit“. Was nicht stimmt, denn Collegezeit wäre kurz vor halb in hektischer Eile gewesen. Rocky für den Tag in den Vorraum gesperrt, ins Auto und weg waren wir, rein in den aufziehenden Schneesturm auf der Autobahn.
Der März ist komisch, alle fünf Minuten hat man anderes Wetter. Was für uns das Aprilwetter ist, heißt bei den Briten March-manyweathers (März: viele Wetter). Nachdem Freitag wunderschön sonnig war und wir heute dasselbe haben, fing der Samstag kalt, windig und mit Schneeschauern an. Aber zum Glück saßen wir ja im Auto, wo es warm und trocken war und Paul laut zur Reaggeakassette mitsang. Vorbei am Industriemeer Middlesbroughs, mit traurigen/mitleidigen Gedanken an Sheila. Vorbei aber auch an den Pennines, einem Mittelgebirge. Ich habe gestaunt, wie schön die Landschaft selbst so nah an der Autobahn ist. Überall am Straßenrand von Efeu umwachsene Eichen, einsam stehende Kirchen zwanzig Meter neben der Leitplanke, grüne Felder bis zu den Bergen und auf ihnen noch immer eine, so schien es zumindest aus der Entfernung, durchgehend weiße Decke. Ich sollte wirklich mal einige Tage in den Pennines verbringen.
Nebenbei las ich in Vorbereitung auf York in meinem Reiseführer (ich hätte mir nur noch Sandalen und weiße Strümpfe anziehen müssen, wo ich gerade erst mit Jasmina über das typische Erscheinungsbild des Deutschen im Ausland gesprochen habe) über die englische Landschaft. Und tatsächlich sah man sie draußen fast wie aus dem Bilderbuch. Baumlos bis zum Horizont, nur mit den weißen Farbtupfen der Schafe und wie eine Patchworkdecke von Hecken und Trockensteinmauern durchzogen.
Der Himmel über York
Nachdem ich mich etwas vor mich hin geärgert hatte, dass gerade heute so schlechtes Wetter war, klarte der Himmel kurz vor York auf und ließ neben der Sonne nur einige weiße Wolkenstreifen sehen. Nach knapp neunzig Minuten Fahrt kamen wir auf dem vereinbarten Park & Ride Parkplatz an. Kurz darauf trafen auch die Eltern ein, wie immer ausnehmend freundlich und mit etwas selbst gekochter Marmelade, die Paul gut vor mir verstecken muss. Dann sind wir in einen der wartenden Busse gestiegen und die zwanzig Minuten in die Stadt gefahren, wobei ich praktischerweise schon mal die Jugendherberge für einen eventuellen Ausflug gesehen habe.
Was man sucht und was man findet
York ist mit 123.000 Einwohnern nur wenig mehr als halb so groß wie Newcastle und, wie mir meine Broschüre verraten hatte, ist seine primäre Attraktion das Münster, das ich mir daher als erstes Ziel auf die Liste gesetzt hatte. Daneben wurden mir das Nationale Eisenbahnmuseum und die Wikingerausstellung ans Herz gelegt, wo sie aber auf die gewohnt harte Schale stießen.
Kurz vor der Kathedrale stiegen wir aus, wo ich mich von den Tointons verabschiedete und die letzten Meter zu Fuß zurücklegte. Wie ihr Konterpart in Durham ist Yorks Kirche zu allererst mal eines: groß. Um einen ersten Eindruck und den Haupteingang zu finden, lief ich daher erst einmal drum herum. Das erste, was ich traf, war eine Gruppe deutscher Touristen. Und das erste, was ich hörte, war ihr Genörgel über den Eintrittspreis des Münsters, der ihnen so offensichtlich überhaupt nicht wehgetan hätte. Auch wenn er nicht ganz ohne war – in dem Punkt war mein Reiseführer veraltet – sogar ich als Schüler habe fünf Pfund für die Kathedrale selbst und die Ausgrabungsstätte darunter bezahlt. Paul erzählte mir später, dass er und seine Eltern deswegen nicht rein gegangen sind, da sie insgesamt einundzwanzig Pfund hätten bezahlen müssen.
Fenstervielfalt
Das war es allerdings auch wert. Innen wirkte es sogar noch größer als das in Durham; graziler, weil auch etwas später gebaut, und vor allen Dingen: viel heller. In diesem Punkt hatte mein schlaues Buch Recht behalten, die bis zu 900 Jahre alten Fenster des Gotikbaus waren wirklich fantastisch. Dabei war es draußen anfangs noch dunkel und wenig Licht schien herein, trotzdem war ihr Potential bereits erkennbar. Das Münster ist die Mutterkirche der Kirche Englands im Norden.
Erst war ich etwas verloren und wusste gar nicht, wo ich denn nun anzufangen; ob ich mir alles alleine angucken oder mich einer der Führungen anschließen sollte. Bis ich realisierte, dass mir ja mit den Tickets eine Broschüre in die Hand gedrückt worden war, auf der die wichtigsten Punkte zu einer Tour zusammengefasst waren. So bin ich langsam durch die Kirche gegangen, vom Rundfenster gleich über dem Eingang über den Konvent, die Marienkapelle vor dem großen Ostfenster, die Petrusfigur vor dem großen Westfenster bis in das frisch restaurierte Kapellenhaus.
Ab und zu lief ich ein Stück mit den Führungen mit, geleitet von Leuten, die den Grundstein noch selbst gelegt haben könnten. Einer war ziemlich lustig und hat unter anderem über die Renovierungsbemühungen an den Fenstern gesprochen. Die Behandlung eines der mittelgroßen allein kostet 1.2m Pfund! Und davon gibt es 130 Stück. Danach sehen sie dann aber auch top aus, was man an den noch ungesäuberten gleich daneben deutlich sehen konnte. Erst wenn die alten Kittlinien entfernt sind, kann man die Bilder in ihrer Gesamtheit sehen und erst wenn die Sonne wieder voll durchscheint, sind sie wirklich brillant.
Das große Ostfenster, wichtigstes der Kathedrale, wurde übrigens vom damaligen Bischof Durhams gespendet. Das kommt also von uns! Leider hat es seine Restaurierung noch vor sich, war dementsprechend schmutzig und daher dunkel. Was schade war, denn in ihm sind die biblische Geschichte der Welt von der Schöpfung bis zum Untergang dargestellt. Auch andere Sachen sind Fremdkörper, so wie der goldene Adler-Altar im hölzernen Konvent, der von den Sowjets als Zahlung für Material während des Kriegs geliefert wurde. Wer sagt, dass man mit Kultur kein Geld machen kann?
Expertenmeinung
Eine Erziehung lang Kulturzwang zeigt ihre Wirkung: ich beginne alte Häuser interessant zu finden. Im Kapellenhaus, einer Art Nebenraum, habe ich etwas Pause gemacht, heimgesucht von der nächsten deutschen Touristentruppe. Gleicher Typ wie draußen, und während die Führerin die – im übrigen sehr schöne – Deckenmalerei und –bögen erklärte, ließ einer der Zuhörer den gesamten Raum an seinem Fachwissen teilhaben und verkündete lauthals, dass das in der Mitte der Setzstein sei. Und er hätte wahrscheinlich gar nicht genug Ausrufezeichen dahinter setzen können, bevor er sich laut schnaufend auf einen der Stühle fallen ließ.
Als ich wieder in das Hauptschiff zurückkam, war die Sonne hervorgekommen und strahlte durch die bunten Fenster, den weiten Westteil mit weißem Licht füllend. Dort gab es mehr nun hell leuchtende Fenster zu sehen und einen kleinen Tisch mit zwei schwarz gekleideten moldawischen Priestern, die Ikonen und Ostereier malten. Leider waren die Infoblätter alle auf Moldawisch, sodass ich nicht wusste, was genau sie hier machten, aber von ihrer Arbeit verstanden sie was.
La dolce vita
Auf meinem Rundgang hatte ich bereits die Kammern unter dem Konvent gesehen und machte mich jetzt auf, mir auch das anzugucken. Am Eingang mit meinem Freund, dem Audio Guide versorgt, ließ ich mir geduldig sämtliche Ausführungen über die Vergangenheit des Münsters erklären. Die Stätte war erst vor einigen Jahrzehnten im Zuge von Sanierungsarbeiten ausgegraben worden, als der riesige Hauptturm unter der eigenen Last zusammenzubrechen drohte.
Zuerst stand auf dem Geländer wohl eine römische Kaserne (ausgerechnet für eine spanische Legion, arme Teufel, unsere Spanier waren schon in den warmen Trainingsräumen nur am Bibbern), um die herum sich das spätere York ansiedelte. In dieser Hinsicht ist es ähnlich dem in Newcastle, was durch die erste römische Brücke über die Tyne gegründet wurde. Einige der Mauern standen immer noch über zwei Meter hoch und sogar durch die Straßenkanalisation lief noch das Wasser der Ouse. Ich kann mich noch an das riesige Aquädukt letzten Sommer in Frankreich erinnern, das Wasser von sonst woher nach, ich glaub, Dijon gebracht hat. Irgendwo in der Nähe haben wir uns damals auch römische Bäder angeguckt; jetzt sah ich unter dem Münster die Innenmauer eines Hauses mit intakter, farbiger Wandmalerei. Eins muss man immer wieder sagen: die Leute wussten zu leben.
Mach’s vor, mach’s nach, mach’s besser
Aber irgendwann sind auch sie dann wieder abgezogen, wobei ihre Bauten noch tausend Jahre lang benutzt wurden. Zwanzig Zentimeter höher stand man auf dem Niveau der Angelsachsen und Wikinger, die neben einem Friedhof mit einigen recht hübschen Kreuzen die erste Kathedrale errichteten. Was ich wirklich faszinierend fand, waren die noch stehenden massiven Außenpfeiler und –mauern mit einem Brunnen davor, zusammen mit einen Bild des Ursprungsgebäudes; dass man nach tausend Jahren exakt das gleiche wie ein Zeitgenosse sah.
Es ist komisch, früher hat mich kein Museum und keine Ausstellung beeindruckt, schon gar keine alten Steine. Scheinbar ist es nur nicht die Plastizität des Lebens dieser Leute, sondern vor allem die Vorstellung der immens langen Zeitspanne bis heute, für die man erst später eine Vorstellung entwickelt.
Bevor man aber zu sehr darüber staunen konnte, kam William der Eroberer persönlich und riss das Ding ganz unsentimental wieder ein. Dann bauten die Normannen konsequenterweise ihre eigene Kirche drauf, nur brauchten sie zehnmal soviel Zeit. Die haben sie dann aber zugegebenermaßen gut investiert, denn das heute sichtbare Ergebnis ist ja wie geschildert recht beeindruckend und weit größer als der Vorgänger. Da in den nächsten tausend Jahre trotz verschiedener Versuche kein neuer Invasor auf die Insel kam, konnte sich der Münster jetzt auch mit allen möglichen Wertgegenständen füllen, die in den ebenfalls unterirdischen Schatzräumen ausgestellt waren. Eine wahnwitzige Ansammlung von Goldbechern und Silbertellern, Smaragdringen und Diamantenstäben, Holzschreinen mit Ölgemälden und Steinkreuzen mit Höllenszenen.
Vertikalsprint
Inzwischen wurde ich aber zu müde für noch mehr Lesen und noch mehr Hören und hab mich wieder über Tage begeben, wo unglaublicherweise die Sonne noch stärker durch die Fenster schien. Mir der Einmaligkeit meines Besuchs bewusst, entschloss ich mich, zum Schluss auch noch die drei Pfund für den Turmbesuch auszugeben, der sich dank des guten Wetters ja nun auch lohnte.
Dummerweise machte ich aus den gleichen Gründen vorher noch eine schnelle Runde durch die Kathedrale und verpasste die nächste Turmgruppe ganz knapp, da Leute nur alle halbe Stunde hoch gelassen werden. Zum Glück bin ich aber in England, wo die Leute weit freundlicher sind als ihr Ruf, und so ließ mich die nette Frau am Schalter auf ein frustriert gemurmeltes „Nein ich kann später nicht wiederkommen.“ dann doch noch schnell die knapp 300 Stufen hoch sprinten. Was ich dann auch getan hab.
Nach etwa der Hälfte lief ich keuchend fast in die Rücken der letzten Leute auf der ersten Galerie mit Blick Richtung Westen, knapp über den Dächern der Stadt. Soviel konnte man da aber noch nicht sehen, und so sind wir dann weiter bis zum eigentlichen Turm gestiegen, über diese schmalen englischen Treppen, die eines Tages noch mal mein Tod sein werden. Oben war es dann leider doch nicht so schön und sonnig wie gedacht, sondern vor allem verdammt windig und die nächste Regenwolke bereits in Sicht.
Hinter Gittern
Was ich mit meiner Höhenangst so beruhigend wie Sicht behindernd fand, war das allumschließende Gitter. Nur bin ich durch Höllenqualen gegangen, als dieser Vater seine kleine Tochter ihren Kopf durch eines der Fenster stecken ließ. Auch von dort oben sah York irgendwie nicht so wirklich spektakulär aus, halt Häuser bis zu den ersten Feldern. Ich glaub nicht, dass der Turm drei Pfund wert war. Vielleicht einen, aber nicht mehr für die fünf Minuten, die man tatsächlich oben stand. Andererseits ist mir vollkommen klar, wie viel Geld man für dieses Gebäude braucht.
Auf den zweiten Blick habe ich die kleine Burg entdeckt und die Ruine einer anderen Kirche, außerdem die Stadtmauer, die mir schon vorher ins Auge gefallen war. Sie ist nicht besonders hoch, aber anscheinend noch vollkommen intakt und man kann auf ihr fünf Kilometer um die Altstadt laufen. Das konnte ich aber aus Zeitgründen später genauso wenig angehen wie die anderen gesichteten Dinge.
Kopf voll, Magen leer
Danach war mir aber auch überhaupt nicht zumute, als ich nun abstieg und den Münster verließ. Nach drei Stunden Laufen, Stehen und Gucken waren meine ohnehin soviel beanspruchten Beine ein kaum noch zu kontrollierender Haufen Gelee in den letzten Atemzügen eines verzweifelten Kampfs gegen die Schwerkraft. Außerdem war ich geistig nicht mehr aufnahmefähig und ziemlich hungrig, leider auch relativ arm. Zwar hatte ich erst Freitag das jetzige und das verspätete letzte Monatsgehalt bekommen, davon aber nichts weiter in mein Portemonnaie gesteckt. So ging es erstmal auf die Suche nach einer Barclays Bank, wo ich außerdem den letzten Scheck vom Gosforth College einzahlen wollte.
Bitte warten!
So bin ich das erste Mal durch Yorks Innenstadt gelaufen, die von der Straße viel schöner und interessanter ist, als vom Kirchturm aus zu erkennen war. Aber dazu später.
Im Moment suchte ich erstmal eine Bank. Ich sah sie alle: Nationwide, HSBC, Lloyds, Halifax, ein zweites Nationwide... aber keine einzige Barclays Filiale. Wie üblich in solchen Situationen frage ich erst jemanden, als ich ohnehin schon fast in der Tür stand. Hungrig, vom Regen nass und vom Suchen inzwischen etwas missgelaunt ging ich dort rein. Dort hatte ich jetzt nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch eine endlose Schlange vor den Augen. Was half es, ich musste meinen Beinen noch etwas Anstehen zumuten, während eine Frau mit ihrer Tochter einen der zwei offenen Schalter für (gefühlte) Stunden belegte. Irgendwann durfte ich dann ein wenig Geld auf mein Konto einzahlen und danach auch gleich wieder etwas abheben.
York, deine Delis
Mit dem festen Vorsatz der Nahrungsbeschaffung bin ich wieder raus und zwischen meinen Freunden den politischen Aktivisten mit dem Sofortrezept zum Weltfrieden („Boykottiert israelische Produkte!“ Natürlich! All unsere Probleme wären gelöst! Warum sind wir nicht gleich darauf gekommen? Oh halt, doch, das sind wir.) sowie einer bemitleidenswert unbeachteten Rednerin auf einen nahe gelegenen Markt gelaufen, der aber nichts Interessantes hatte.
Bis ich am Rand ein Geschäft mit dem eineInterpretation verbietenden Namen „The Deli“ fand. Zwar noch immer nicht so stilvoll wie der Laden in Edinburgh (oder vielleicht glorifiziere ich die zehn Minuten, die ich da drin war, auch nur), aber mit einem scheinbar unendlichen Spanne an Produkten. Wurst, Käse, Nudeln, Brot, Marmelade, sie hatten alles. ALLES! (Leider keinen Comté)
Trotzdem habe ich nicht allzu viel eingepackt. Nur zweihundert Gramm eines „Mont des Cats“ und die gleiche Menge Paprikasalami, kundenfreundlich gleich in Vorrats streckende dünne Scheiben geschnitten. Dazu noch ein Stück Paklava, dieser grandiose arabische Beitrag zum Dessertkonfekt. Nichtsdestotrotz hat das mehr gekostet als der Käse in Edinburgh, sodass ich gleich wieder zurück zum Automaten laufen musste. Mit diesen Sachen in der Tasche schlenderte ich durch die Gassen der Altstadt, deren Aussehen es beinahe unmöglich erscheinen ließen, auch ohne Suchen nicht noch an tausenden weiteren tollen Läden vorbei zu kommen.
Die Schönheit der Fassaden
York hat eine überragend schöne Innenstadt mit vielen Dingen, die ich in Newcastle manchmal vermisse. Das hat mich leider auch zum Geldausgeben verleitet. Sie ist eine reine Fußgängerzone und zumindest an diesem Tag voll mit Leuten. Cafés und tea rooms überall, fast ausschließlich kleine Einzelhandelsläden, nur ab und zu ein mittelgroßes Geschäft und das unvermeidliche Starbucks/McDonalds. Die Läden sind alle in diesem typisch englischen Stil, mit einer hölzernen Fassade und einer einzigen, aber starken Farbe. Sogar Spar war so untergebracht.
Überhaupt ist alles wie frisch gestrichen, sauber und wie der Traum eines Marketingdirektors. Ein Stereotyp, vermute ich, aber das ist einem egal, wenn man durch die engen Sträßchen spaziert. Ich dachte – wahrscheinlich, weil ich das so aus meiner Heimat kenne – es wäre alles erst in den letzten Jahren restauriert und schick gemacht worden. Aber Paul meinte später, dass York schon immer so aussah. Man merkt, dass es hier keinen Umbruch gegeben hat.
Stahl und Fachwerk
Der Unterschied ist die Architektur. York, oder beschränken wir das besser nur auf die Altstadt, ist pittoresk. Das, was man als schön bezeichnen würde. Es HAT so etwas wie Gassen, viele Cafés, kleine Einzelhandelsläden und ist voller Leute, während man in Newcastle oft nach zehn Minuten wieder aus dem Zentrum raus gelaufen ist.
York ist stilvoll. Sauteuer, aber mit einer hohen Lebensqualität. Kleine, gut erhaltene Fachwerkhäuser; hübsch, zuckersüß, das Paklava unter den Städten. Hier könnte ich es vermutlich eine ganze Weile aushalten, auch wenn ich mit Sicherheit irgendwann den herberen, maskulineren Charme der Stahlbrücken Newcastles vermissen würde, dem wie Paul so treffend zu sagen pflegt, das Herz (und Orten wie Easington auch die Seele) rausgerissen wurde. Yorks Innenstadt ist teuer, eher Mittelklasse, während Newcastle und seine Umgebung ganz eindeutig working class ist, wo die Hälfte der Leute in den Minen oder Stahlwerken oder Werften gearbeitet hat.
Essen aus der Tonne
Aber jetzt war ich in York und ich fühlte mich äußerst wohl dort. Unter anderem, weil inzwischen auch das Wetter das Beste rausholte, was es an diesem Tag zu bieten hatte. Nach einigen vergeblichen Abstechern in die wie immer nutzlosen und eher zu Sandwichläden konvertierten Bäckereien fand ich eine Filiale von Weighhouse, eines dieser Geschäfte, in denen man Waschpulver, Trockenobst, Süßigkeiten und wer weiß was sonst noch wie vor fünfzig Jahren aus Krügen und Tonnen fischen kann. Das erste Mal hatte ich so ein Weighouse auf Grainger Market gesehen, nur dass ich den Namen erst vor kurzem erfahren hatte und mir nie hätte vorstellen können, dass so etwas in Ketten organisiert ist. Aber generell findet man hier oft noch Läden, wie sie bei uns im letzten Dorf nicht mehr existieren. Mit Analogwaage hinter dem Kassentisch und einer uralten Registrierkasse.
Urlaub mit Bananen
Wie dem auch sei, hier fand man alles was das Herz begehrte und so packte ich getrocknete Bananenscheiben ein, Datteln, Sultaninen und Pflaumen. Ich kam mir vor wie ein Kind im Bonbonladen, und das ist ja auch nicht ganz abwegig.
Was ich zuerst nicht glauben konnte, aber diese Art Geschäfte sind billiger als jeder Hightech organisierte, Laser vermessene, digital abgerechnete Supermarkt. Alles zusammen hat es mich dreieinhalb Pfund gekostet und ich hab mich geärgert, nicht noch die Feigen und Aprikosen eingepackt zu haben. Die Bananen habe ich gleich zum Abendbrot (was sowieso noch ein Kapitel für sich ist) vernichtet, von den Datteln ist auch nicht mehr viel übrig.
Ich wollte schon nicht mehr aus York weg. Des obligatorischen Baguettes wegen – anderes vernünftiges Brot konnte ich trotz Suche nicht finden – bin ich kurze Zeit später nur noch schnell in eine dieser unsympathischen Bäckereien/Cafés gesprungen, was aber das Geld nicht wert war. Wieder so ein dünnes, labbriges Ding. Da heißt der Laden schon „Delifrance“ und dann machen sie schlechtere Baguettes als ASDA. Man kann nicht alles haben. Es war schön genug, einfach durch die Gassen zu laufen, eine absolute Urlaubsstimmung.
Die Kur der Beine
Gegen drei habe ich mich ziemlich fertig in eine kleinere Starbucksfiliale gesetzt, für einen mittleren Kaffee bezahlt und einen großen getrunken (was immer noch teuer genug war). Das habe ich wirklich genossen, denn trotzdem ich ja in Newcastle einige Plätze gefunden habe, kommt dort nichts an die Gemütlichkeit dieser Innenstadt heran. Selbst das Starbucks war innen wie ein altes Café hergerichtet, ziemlich klein und neben einer Stube mit Tischen hatte es entlang des Schaufenster eine Tischleiste mit Barhockern, wo ich mich niederließ, langsam meinen Kaffee trank, etwas in Broschüren und dem Reiseführer las und ansonsten aus dem Fenster auf die Kathedrale, die Altstadt und die Menschen schaute.
Ich kenne keine Freiwilligen in York, auch wenn ich mir sicher bin, dass es dort welche gibt. Jedes Mal, wenn ich eine Gruppe junger Leute gesehen hab, besonders wenn sie „kontinental“ (man übernimmt diese Klassifikation schneller als einem lieb ist) gekleidet waren, hab ich mich gefragt, ob das nicht welche sein könnten. Ich würde gern welche dort kennen, die mir mal die Stadt zeigen könnten.
Sehr entspannend dort zu sitzen, vor allem für meine Beine. Genau der richtige Platz, um die letzte Stunde rumzukriegen, wenn man zu müde für alles andere ist. Am Freitag hatte ich mit Peter Brabban diese Diskussion über die örtlichen Jugendlichen, die klassischen Rollen vertauscht mit ihm in der Mitleidsposition und ich mit der Meinung, dass sie selbst in Easington noch zuviel Geld und Freizeit haben. Solche Gedanken muss jeder unterstützen, der einmal in einem Starbucks gesessen hat. Die Preise sind für meine Begriffe Wahnsinn und trotzdem ist die Kundschaft erstaunlich jung. Kurz bevor ich ging, kam sogar eine Gruppe Kinder rein, vielleicht zehn oder zwölf Jahre alt, und mit mehr Geld am Körper als andere auf dem Konto.
Kristallcafé
Wir wollten uns gegen halb fünf wieder auf dem Parkplatz treffen, sodass ich gegen vier einen Bus suchen wollte. Kurz vorher bin ich aber noch in „Betty’s coffee house“ gegangen, das einzige im Reiseführer empfohlene Café. Von einer Schweizerin eröffnet und wie ein Wiener Kaffeehaus aussehend (wobei ich noch nie in einem Wiener Kaffeehaus war, aber Unwissen hat mich noch nie am Reden gehindert), war es die Kristallisation der Altstadt: schön (!), teuer (!!!), ein wahr gewordener Heimatfilm perfekt bis ins Detail. Ich bin mir sicher, selbst jedes Staubkorn wurde von Hand platziert; jeden Augenblick erwartete man Sissi aus der Tür spazieren zu sehen. Voll war es auch, kein Wunder, das Ding ist eine Touristenfalle sondergleichen. Natürlich auch von hoher Qualität. So stellte ich mich geduldig und schon ganz Engländer in die Schlange und bekam auch was ich wollte.
„Säts tu sörti, no?“ – „Aye!“
Dieser Besuch hatte eine sehr motivierende Seite. In den letzten Wochen stellte ich nämlich eines fest: Je besser mein Englisch wird, desto mehr höre ich nur meinen deutschen Akzent, den ich irgendwie nicht so besonders mag. Aber dann kam ich in dieses Geschäft und war wie immer von Deutschen verfolgt. Gleich hinter mir standen zwei Mädchen, sich laut über ihre Konsumwünsche unterhaltend.
Nachdem sie bestellt hatten, hatte ich keine Sorgen um mein Englisch mehr. Vielmehr ist es schon ziemlich cool, außerhalb Durhams immer wieder ein bisschen Geordie zu praktizieren. Ganz im Gegenteil macht mein Deutsch manchmal schon arge Probleme. Immer wieder komme ich ins Stolpern; so an das Bausteinsystem gewöhnt, dass ich statt zu reden an solche Sachen wie „jetzt das zweites Partizip hinter das Hilfsverb setzen“ denke, es in Gedanken für „gehen“ suche und die alten Verblisten durchgehend doch nur immer wieder bei „gone“ ankomme. Frau Knopp wäre so stolz auf mich.
Northern Rock
Das war York. Mehr oder weniger, es hat mich noch etwas Zeit und Mühe gekostet, den richtigen Bus zurück zu finden. Oder besser gesagt die Haltestelle, wo er mich dann auch einsteigen lässt, anstatt vorbei zu brausen. Irgendwie hat er es dann auch in fünf Minuten zum Parkplatz geschafft. Ein Hoch auf unsren Busfahrer! Ich kam so was von pünktlich an, wieder haben nur noch die Sandalen und weißen Socken gefehlt.
Nichts ging schief an diesem Tag, auf der Rückfahrt haben wir viel gelacht und geredet, sodass einem nicht langweilig werden konnte. Paul hatte mit seinen Eltern in einer Fotoausstellung über die russischen Gulags besucht. Ja die gibt’s immer noch. Die soll wohl sehr gut gewesen sein, und mit etwas Glück ist sie nächstes Mal noch da, wann auch immer das sein mag.
Sogar Newcastle hat gewonnen, diesmal gegen Liverpool. Eins null, grad als wir das Radio angemacht haben. Uns geht es wirklich gut, seit Craig Bellami rausgeschmissen wurde ein Sieg nach dem anderen, während Sunderland nur verliert. Nächsten Sonntag bin ich beim nächsten FA Cup Spiel gegen Spurs dabei. Ach ja, Northern Rock ist Newcastles Sponsor, ich glaub eine Bank. Find ich sehr passend als Trikotaufschrift. Toon Toon!
Letztens habe ich ein wahnsinniges Spiel gesehen. Das war auch FA, Arsenal (Premiership) gegen Sheffield (3. Liga, glaub, die heißt jetzt Coca Cola Liga 2, aber so genau weiß das hier keiner), wobei letztere das 0:0 bis zum Elfmeterschiessen gehalten haben. Das haben sie dann leider verloren, hatten aber vorher Chancen, dass einem das Herz stehen geblieben ist. Ein Spiel, das sicherlich seinen Tribut unter infarktbedrohten Leuten gefordert hat.
Heureka, Ambrosia!
Einen Höhepunkt hielt der Tag dann doch noch bereit und, ausnahmsweise, hat das was mit Käse zu tun (unter anderem). Abends hab ich mir nämlich den Traum von einer Mahlzeit gemacht, mit allem was ich mir am Tag gekauft habe. Die Basis waren nur Kartoffeln mit Möhren, aber dazu eine gött-lich-e Cheddarkäse/Knoblauch Sauce. Dazu ein bisschen Rohkost, ich hab gerade erst entdeckt wie dekorativ das wirkt. Aber vor allem war der Tisch voll mit Tüten und Tellern, Bananen, Pflaumen, Rosinen, Datteln, Baguette, Wein und Käse. Fast zu gut zum Essen. Da ist das väterliche Erbe. Und wenn ich nicht aufpasse, hat es langfristig auch den gleichen Effekt. Tags zuvor habe ich mir übrigens mein erstes eignes Gratin gemacht und konnte es sogar essen. Man muss sich vor Augen führen: als ich hierher kam, konnte ich mit viel Glück vielleicht mal eine Kartoffel schälen.
Nachtrag
Der Tag hat mich so begeistert, da musste ich gleich drüber schreiben. Leider konnte ich mich schon längst nicht mehr zum Computer bewegen, so hab ich auf Französisch angefangen und machte eine neue Übung draus. Darum kommt dieser Eintrag auch wieder so spät, denn was Ihr nicht wisst: heute ist eigentlich Dienstag. Natürlich habe ich am Sonntag nicht weitergemacht, da ich mich auf das Französischexamen Montag vorbereitet habe.
Also um genau zu sein habe ich den ganzen Tag vertrödelt und dann abends schnell meine beiden abzuliefernden Tests ordentlich, das heißt lesbar, abgeschrieben. Auch wenn der Kurs nur aus persönlichem Interesse ist, war ich kurz vor der Prüfung doch ziemlich nervös, außerdem außer Atem. Natürlich war es dann ziemlich leicht, auch wenn wir auf einmal nur das Wörterbuch benutzen durften. Gegen Ostern kommt dann der mündliche Test und irgendwann danach das Lesen.
Arbeiten am Limit
Leider habe ich zu der Zeit schon eine Erkältung kommen gespürt, die dann heute richtig durchgeschlagen hat. Gerade, wo die Interviews mit den zukünftigen Freiwilligen anstanden. Den deutschfähigen hat Paul übrigens mein Tagebuch zum lesen gegeben. Hallo! :-) Eine meinte „da war ziemlich viel über Käse“.
Unangenehmerweise mussten wir mitten in der Nacht (7.00 Uhr!!) aufstehen und nach Newcastle fahren, weil dort Telefonkonferenzen möglich sind. Was mich ziemlich tot erscheinen ließ. Nur, um ein erstes Interview gegen halb neun zu führen, dass nach drei Minuten wegen fehlender Sprachkenntnisse vorüber war. Dann hatten wir über drei Stunden bis zu den nächsten totzuschlagen, was krank eine absolute Folter war.
So sind Peter, Paul und ich irgendwann in ein Café gegangen, was ziemlich nett war (wo ich mal bei Tageslicht in der Stadt bin sehe ich auf einmal einen Pub nach dem anderen!). Noch netter wurde es aber hinterher. Peter hat mir einen gigantischen Deli mit allen erdenklichen Abteilungen gezeigt, im hinteren Teil eines Kaufhauses, das ich ob seiner nach vorne hin ausgestellten Sachen bisher immer ignoriert hatte. Dort gibt es sogar frische Croissants!
Oh je, mein armes Geld... Ich werd hier noch enden wie der italienische Freiwillige von Cragside, der sein ganzes Gehalt jeden Monat sofort für Klamotten ausgegeben hat. Hinterher hab ich mir noch ein schönes, warmes Mittagessen von Grainger Market geholt, den Laden kennen noch nicht mal Paul und Peter.
Antworten und Fragen
Wieder zurück war es dann irgendwann Zeit für das nächste Interview; leider haben wir nur zwei der verbleibenden drei Kandidaten für diesen Tag erreicht. Aber, mein Gott, was für welche!
Jedes Mal, wenn ich mit EVSlern spreche, fühle ich mich so unberechtigt für diesen Platz. Wie ein Kuckucksei, das sich hier eingeschlichen hat. Was ja auch irgendwie stimmt. All die anderen haben einen Hut voll Qualifikationen, sprechen bereits jetzt besseres Englisch als ich nach einem halben Jahr hier oder haben schon gute Erfahrungen mit Naturschutz. Können vier Fremdsprachen, waren schon einmal ein halbes Jahr im Ausland. Und sind noch jünger als ich.
Was habe ich mit meinem Leben gemacht?! Ich bin gerade mal zwanzig und muss mir schon diese Frage stellen. Und vor allem: wo waren die zweisprachigen Schulen und Austauschprogramme als ich so alt war? Wir hatten nicht einmal fähige Französischlehrer. Man kommt sich so verdammt unfähig vor. Wie kann man mit noch nicht einmal zwanzig Jahren Chinesischkenntnisse haben? So etwas sollte eigentlich verboten sein.
Ja wie denn nun...?
Und sonst so... Nächstes Wochenende fahre ich zu meinem ersten Working Holiday, hab dafür gerade den Scheck ausgefüllt. Nun muss ich doch dafür bezahlen, aber das macht nichts. Viel schmerzvoller wird die Zugreise werden. Es ist einfach lächerlich, ich muss nur quer durchs Land fahren, nach Wrexham in Nordwales, und das soll sechs Stunden dauern und beinhaltet vier Umstiege! Sieben Tage später komme ich in der Hälfte der Zeit nach London! Hab zuerst gedacht ich guck nicht richtig. Trotzdem ist die britische Bahn noch immer besser als unser Unternehmen Zukunft. Von Templin hab ich knappe zwei Stunden für die achtzig Kilometer nach Berlin gebraucht und eine Fahrt nach Cottbus hätte mich wahrscheinlich mehr Geld und Zeit gekostet als hier eine von Brighton nach Fort William.
Korrektur
Davon abgesehen hab ich gerade Oliver Twist fertig gelesen, sechshundert Seiten Dickens, wenigstens darauf kann ich mir was einbilden. Denise, meine Englischlehrerin, hat mir ein neues Buch gegeben, aber ich glaube ich werd ein anderes nehmen. Ich habe schon seit längerer Zeit Alice im Wunderland im Visier.
Das ist nämlich eine weitere entnervende Annehmlichkeit von Europäischen Freiwilligen: sie sind alle so furchtbar gebildet und haben mehr Bücher gelesen als ich gesehen hab. Und sie wissen immer alles besser.
Vor kurzem habe ich einen kurzen Artikel von einem „Klaus“ gefunden, der über seinen Aufenthalt in England schreibt (ratet mal: „Einfach unglaublich. Ein Jahr in England“). Das war der Klaus, von dem mir Peter schon einige Male erzählt hat, der hat ich glaub auf Cragside gearbeitet und war auch von ihm verwaltet. Mit einem kleinen Kommentar einer gewissen „Maureen“ darunter. Jedenfalls schreibt der, dass das Harry Potter Schloss in Alnwick ist und nicht das in Durham. Dafür soll die Kathedrale Drehort gewesen sein, nichts Genaues weiß man allerdings nicht, denn mein Reiseführer sagt es sei die in Gloucester.
Alles nicht so einfach.