Der Rhythmus des Jahres
Der Winter in St Petersburg war hart, doch hätten wir gewusst, wie sehr der Sommer uns fürs Bleiben bewohnt, hätten wir ihn viel lockerer durchgestanden!
Was hat uns der Winter gequält mit seinen langen tiefdunklen Nächten und eisigen Temperaturen! Nicht nur eine wollene Strumpfhose musste unter der Hose wärmen, oft nahm ich eine zweite oder zog die Skihose über. Auch wenn dieser Winter als sehr mild bezeichnet wird, raubte er allen Freiwilligen viel Kraft und Zeit. Wenn es erst um 11 Uhr hell wird und es um drei bereits dämmert, dann fehlen dem Körper Sonnenvitamine, die viele Russinnen durch Antidepressiva ausgleichen.
Bis der Winter kam, dauerte es sehr lange. Erst im Dezember blieb der Schnee liegen. Es scheint, als gäbe es in Russland nur zwei Jahreszeiten: Sommer und Winter. Frühling und Herbst beschränken sich zeitlich auf jeweils zwei Wochen. Im Herbst, so erinnere ich mich, ging es sehr schnell, bis die bunten Blätter auf dem Boden lagen. Dieses faszinierende Schauspiel der Natur, der Wechsel von saftigem Grün in warmes Rot, Braun und Gelb, war erstaunlich schnell vorüber und bald lagen die Blätter im Regen auf der Straße. Wer in den Herbstwochen krank war, der könnte denken, dass es gar keinen Herbst gibt in Russland.
Dann kam eine lange Regen- und Schneephase. Immer wieder fiel Schnee, der sofort wieder schmolz. Das Lieblingskleidungsstück zu dieser Zeit waren natürlich die Gummistiefel. Bei Temperaturen von 0 bis 5 Grad schien fast nie die Sonne - teilweise ließ sie sich 14 Tage nicht blicken. Die Lust, draußen zu sein, blieb in diesen Monaten selbstverständlich aus.
Lieber igelt das Volk sich zu Hause ein und schläft so viel, dass es beim Aufwachen schon wieder müde ist.
Der Temperatursturz von -5 auf -25 Grad wurde lange vorausgesagt und wurde sehr herbeigesehnt von uns Freiwilligen. Die Russen schwärmten vom zugefrorenen Meer unter strahlender Sonne und meterhohen Schneedecken. Trotz der Eiseskälte genoss ich die beiden kältesten Wochen sehr. Viele Phänomene wurden von uns bestaunt: Gefrorene Wimpern von aufsteidenden Atem, gefrorene Haare, bedeckt mit einer weißen Schicht; und rote Bäckchen, die einem Kindermärchen entsprungen sein könnten.
Der Frühling dauerte wie der Herbst geschätzte zwei Wochen. Innerhalb von kürzester Zeit schnellten die Temperaturen in die Höhe und begannen die Blätter und Blumen zu sprießen. Weil der Großteil des Baumbestandes Fichten, Tannen und Birken sind, blieb das große Blühen leider aus. In Windeseile wurden von Mitarbeitern der Stadt auf jedem freien Grasstreifen Tulpen gepflanzt, sodass die Stadt über Nacht bunt wurde.
Meine Frühlingsjacke blieb fast ungetragen, jetzt genügt schon ein Strickjäckchen. Die Frauen tragen Sommerkleider und sonnen sich in Bikinis am Park. Die ganze Stadt ist auf der Straße, so als wäre sie eben zum Leben erweckt.
Noch wird es für wenige Stunden dunkel, aber schon in zwei Wochen beginnen die weißen Nächte. Die Sonne ist zwar nicht sichtbar, aber der Himmel ist hell wie kurz vor Sonnenuntergang.