Der erste Oktober
An diesem Tag macht grey in Ungarn vieles zum ersten Mal. Zum ersten Mal Freunde in einer anderen ungarischen Stadt besuchen und zum ersten mal Nachts bei Gewitter mit dem Bus nach Hause.
„Vertraue den Busfahrern einfach, dass sie dich sicher an dein Ziel bringen“, das hatte Simon noch in beruhigendem Tonfall auf meinem Abschiedsgrillfest zu mir gesagt. Inzwischen habe ich die ungarischen Fahrkünste am eigenen Leib erfahren.
Das Datum dieses Donnerstags, der erste Oktober, ist bezeichnend. Vieles an diesem Tag war das erste Mal. Mein erster Besuch bei Marie in Nagyvázsony (Nodwaschon), meine erste Busfahrt, mein erster Regen in Ungarn, meine erste nächtliche Busfahrt, mein erstes ungarisches Gewitter, das erste Mal, dass ein Blitz unweit von mir entfernt eingeschlagen ist.
Was sich nun so dramatisch anhört, beginnt eigentlich sehr unspektakulär damit, dass ich nach Nagyvázsony fahre, um mich mit Marie zu treffen. Marie ist Französin und wie ich Freiwillige in Ungarn. Ihre Mitbewohnerin, Funny, ist ebenfalls Französin. In meiner Anwesenheit sprechen aber auch sie Englisch miteinander. Ich bin in dreierlei Hinsicht von dieser Begegnung überrascht. Erstens will die große blonde, kurzhaarige Frau einfach nicht zu dem quirligen französischen Mädel passen, dass ich mir auf Grundlage ihrer Stimme vorgestellt habe.
Zweitens scheint es hinsichtlich der Unterkünfte der Freiwillige sehr extreme Unterschiede zu geben. Maries und Funnys Unterkunft besteht im Grunde aus drei Räumen. Im Wohnzimmer schläft Marie, im Esszimmer Funny. Dazwischen gibt es eine kleine Küche, die nicht einmal einen eigenen Raum darstellt. Und dann ist da noch ein Bad mit Toilette. Wenn ich da an meine Unterkunft denke, komme ich mir vor, wie eine Prinzessin im Palast. Nicht vergleichbar.
Und schließlich Drittens, und das finde ich sogar fast erschütternd, habe ich den Eindruck, sie ist von ihrem Projekt maßlos enttäuscht. Sie fühlt sich über den Tisch gezogen, weil ihre Organisation ihnen nur ein Mindestmaß an dem Geld auszahlt – und den Rest wohl zurückbehält. Zusätzlich gibt es keine Arbeit. Marie erscheint mir nicht als ein Mensch, der die Hände in den Schoß legt, und auf Arbeit wartet. In den Mails, die wir zuvor austauschten, war sie voller Tatendrang.
Nachdem die beiden Mädchen mir Nagyvázsony gezeigt haben – also die Burgruine vor ihrer Tür, den Friedhof und die alte Abteiruine, trinken wir noch eine Tasse Tee in Funnys Schlafzimmer. Ich frage Marie: „Do you think the european money is lost money?“ Und sie antwortet, die Worte abwägend: „There’s is a lot of waste. In one project there was a man, who wanted ten volunteers because of the money, although there was no work….” Was ich selbst dazu denke? Die EU hat sehr viel Geld. Ich persönlich finde solche Freiwilligendienste sehr gut – klar, sonst würde ich nicht selbst an einem teilnehmen – aber das viele Geld bringt es auch mit sich, dass es allzu sorglos verteilt wird. Auch an Projekte, die gar nicht genug Arbeit haben, um einen Freiwilligen zu beschäftigen.
Ich finde, hier sollte mehr Prüfung stattfinden. Auch diesbezüglich, dass das Geld beim Freiwilligen ankommt. Generell empfinde ich auch die Rolle der Entsendeorganisation zunehmend als dubios. Genau diese sollte sich nämlich in solchen Fällen einmischen. Nur irgendwie verschwindet die Entsendeorganisation spätestens nach der Ausreise aus dem Leben des Freiwilligen – und scheint auch nicht mehr so ganz daran interessiert zu sein. Dabei kann so ein Freiwilliger auch für die Entsendeorganisation von Nutzen sein!
Wir müssen uns dann auch etwas beeilen, um zum Bus zurück zu kommen. Und nicht nur wegen des Gewitters, das draußen langsam aufzieht und mit grellen Blitzen den nächtlichen Himmel über der Burgruine erhellt. Bis ich den Bus erreiche, regnet es bereits.
Regel Nummer 1 im Bus 1x1: In einen Bus einsteigen darfst du – nur wieder aussteigen darfst du nicht. Ich komme mir schon etwas merkwürdig vor, wie ich da so dasitze in meinem schwarzen Abitendo Pulver und mit nassen Socken. Neben mir macht es leise Plop, Plop, Plop. Der Bus ist undicht. Draußen regnet es in Strömen, durch die Windschutzscheibe sieht man nicht mal mehr die Straße. Egal, der Busfahrer fährt unter einer Baumallee mit 80 Sachen durch die Nacht. Rechts von mir auf einem Feld sprühen auf einmal helle Funken auf, der Donner grollt dunkel. Die anderen Insassen schrecken zusammen. Der Busfahrer rast weiterhin. Inzwischen hat zum Glück der Scheibenwischer wieder seinen Dienst aufgenommen.
Jetzt habe ich nur noch ein Problem: Wo bin ich? Wo muss ich raus? Ich habe keine Ahnung, denn Städte sehen bei Nacht und insbesondere in gewittrigen Nächten irgendwie alle gleich aus. Mein Handy klingelt. „Felix Zuhause“ steht auf dem Display. „Ja?“ Meine Ma meldet sich am anderen Ende. „Hey Ma, du, kannst du vielleicht nachher nochmals anrufen?“, Die ältere Frau vor mir wendet sich überrascht um, als ich Deutsch spreche und rutscht auf ihrem Sitz hin und her. „Ich sitze nämlich gerade im Bus und habe keine Ahnung, wo ich gerade bin.“ Erstaunlicherweise höre ich nicht, dass sie mit Putzen anfängt, wie sie es immer tut, wenn sie sich maßlos Sorgen macht. Sie reagiert sogar überraschend gelassen und sagt „Klar!“
Vielleicht zehn Minuten später huscht das Schild von „Tótvázsony“ vorbei. Ich atme erleichtert durch. Die Konditorei kommt in Sicht und ich möchte aussteigen. Also drücke ich den grünen Knopf, um die Tür zu öffnen. Geht aber nicht. Gut dann, eben vorne. Ein Eimer mit einem Wischmopp darin versperrt mir den Weg. Super. Was nun? Ich spüre leichte Nervosität in mir aufsteigen. Ich tue, was ich in solchen Momenten immer tue: Ich frage einen jungen Kerl, der freundlicherweise einmal etwas durch den ganzen Bus zum Fahrer durchschreit. Mist, schon wieder als Ausländer geoutet… -.- Aber endlich gehen die Türen auf und ich werde in die Freiheit entlassen.