Dem europäischen Volke – Ein Parlament für 500 Millionen Bürger
Im Mai wird eine neue Legislative für Europa gewählt. Diese kurze Analyse soll auf die Probleme aufmerksam machen, denen der Wahl vorausgehen.
Im Mai finden Europawahlen statt – es wird in einer allgemeinen, freien, geheimen, gleichen und unmittelbaren Wahl über die Zusammensetzung des einzigen transnationalen Parlamentes der Welt entschieden.
Die Brüsseler Institution steht für die Werte der Europäischen Idee – Freiheit, Demokratie und Wohlstand werden durch sie – mal mehr, mal weniger kraftvoll - verkörpert. Der Mai als Wahltermin ist nicht zufällig gewählt – der „Tag der Befreiung“ im Mai 1945 beendete die Greuel des Zweiten Weltkriegs. Wenige Jahre (1950) später schlug Robert Schuman, der Außenminister Frankreichs, in einer Rede vor, eine europäische „Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ zu schaffen. Kohle und Stahl sind die essentiellen Materialien, um einen Krieg zu führen. Der Plan sah also vor, durch eine Einbindung Deutschlands einen weiteren (Vernichtungs-) Krieg in Europa zu verhindern. Der 9. Mai ist seit 1985 der „Europatag“, an dem an der (politischen) Grundsteinlegung der Europäischen Union gedacht wird.
Diese Idee dominiert noch immer unser Zusammenleben in Europa – schließlich leben wir seit beinahe 70 Jahren in Frieden und Wohlstand, können in Wahlen über den Weg, wie wir unser Zusammenleben gestalten wollen, abstimmen.
Für viele Wählerinnen und Wähler der Europawahl ist das Konstrukt der Europäischen Idee zu abstrakt; sie können mit den Brüsseler Vorschlägen und Richtlinien wenig anfangen, für sie ist der Gedanke an Europa zu weit weg.
Woran liegt das? Meiner Meinung nach kann man hier einen ganzen Bündel an Ursachen ausmachen:
Zunächst einmal ist die Komplexität Europas ein Problem. Wer sich nicht für Politik, Wirtschaft oder gesellschaftliche Entwicklungen interessiert, der wird auch nichts mit den Vorgängen in Brüssel anzufangen wissen. Im Gegenteil, die Vielfalt der Probleme, Verhandlungspartner, Vorschriften, Gesetze und Gremien wirkt verschreckend, ablehnend.
Ein weiteres Problem dürfte die Sprachenvielfalt sein – auf den Konferenzen in und für Europa wird Englisch und Französisch gesprochen, Deutsch hat nur eine Randbedeutung. Dolmetscher übersetzen Schriftstück und Reden, dennoch entsteht dadurch eine Entfernung, die kaum zu überwinden ist.
Eine dritte Schwierigkeit ist sicherlich die Entfernung – sowohl der Themen, als auch der geografischen Distanz. Zwischen Brüssel und Neustadt in Holstein oder Pirna liegen einige Kilometer. Der Bürgermeister der eigenen Gemeinde taucht auch schon einmal beim Bäcker um die Ecke auf oder eröffnet ein Schul- oder Stadtfest. Er ist bekannt wie ein bunter Hund – ganz anders, als die Gesichter in Brüssel. Wer kann schon auf Anhieb Manuel Barroso, Catherine Ashton, Mario Draghi, sowie Martin Schulz oder Herman Van Rompuy zuordnen? Selbst gewiefte Leser niveauvoller Tageszeitungen dürften hier ihre Schwierigkeiten haben. In seiner Heimatstadt oder dem Wohnort hingegen kennt man die Repräsentanten des Stadtrates, der Parteien, der Kirche und der örtlichen Vereine. Viele sicherlich sogar beim Namen, man ist mit ihnen verbunden. Diese Nähe erweist sich natürlich als Vorteil, wenn in der Presse über Vorschläge, Debatten oder Entwicklungen berichtet wird.
Diese drei Punkte münden in ein großes Problem:
Europa hat – anders als eine Stadt oder Gemeinde – keine gemeinsame Öffentlichkeit oder Interessen. Wenn wir auch in Zukunft von der Europäischen Idee profitieren möchten, wenn wir auch in Zukunft als ein Garant des Friedens und Wohlstandes gesehen werden wollen, brauchen wir eine gemeinsame Öffentlichkeit. Zur Europawahl gibt es erstmalig einen Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten. Ein Gesicht für die Kommission – mit diesem Schritt ist ein Anfang gemacht. Ein starker Kommissionspräsident kann für Europa werben, seine Probleme erklären. Ein einheitliches Gesicht, welches eine Identifikation ermöglicht, kann für Europa nur gedeihlich sein; vielleicht kann es einem durch die Wähler in Europa legitimierten Präsidenten gelingen, eine Basis für eine Öffentlichkeit aufzubauen. In dieser großen Chance liegt aber auch eine Gefahr: Die Gestaltung Europas darf nicht in die Hände von Bürokraten fallen. Europa ist kein Projekt von Juristen, um sich mit komplizierten Konstrukten die Zeit zu vertreiben. Europa ist Politik; Europa ist Leidenschaft und Augenmaß zugleich, dicke Bretter zu bohren. Nur ein Kommissionspräsident, der diese Herausforderungen versteht und danach handelt, kann die beschriebenen Probleme angehen. Die Wählerinnen und Wähler in Europa können ihres dazutun: Es ist eine moralische Pflicht, wählen zu gehen. Nur wer auch wählt, kann partizipieren. Nur wer auch wählt, kann dem Gedanken Europas eine Chance geben. Vielleicht liegt hier die größte Hürde – es geht nicht mehr darum, die Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten von Europa zu überzeugen, sondern die Wähler.