Das Ziehen in den Knochen, wenn sie zu wachsen anfangen
Von Stammplätzen, einem doppelten Frühstück und dem Gefühl, sich zu verändern.
"Das hier erinnert mich irgendwie daran, an das Ziehen in den Knochen, wenn sie zu wachsen anfangen. Ich spüre das jetzt wieder, doch größer werde ich nicht. Da ist so viel, was sich ändert und am Ende ändert es mich." (Tonbandgerät)
Seit meiner Ankunft hier gab es so viel Neues und dieses Gefühl, zu wachsen, auch wenn ich wohl nie über meine 1,63 m hinauskomme, scheint seitdem irgendwie immer gegenwärtig zu sein. Und Schritt für Schritt merke ich, wie ich mich dadurch auch selbst verändere.
Seit ungefähr der 8. Klasse war ich mir zum Beispiel sicher nach dem Abi Medizin zu studieren, Ärztin zu werden und so Menschen zu helfen. Ich finde den menschlichen Körper einfach total interessant und darüber nachzudenken, was genau in diesem Augenblick alles für Vorgänge in mir ablaufen, fasziniert mich immer wieder aufs Neue. Aber in den letzten Woche habe ich das Gefühl, dieser Vorstellung vielleicht nicht mehr entsprechen zu können beziehungsweise zu wollen. Eben genau dieses Ziehen in den Knochen, von dem Tonbandgerät singen, das mir zeigt, dass ich innerlich an den neuen Aufgaben wachse. Ich möchte in Zukunft nicht einfach irgendwelche Medikamente verschreiben, um Menschen zu helfen, sondern in ihren Köpfen etwas bewegen, Perspektiven geben und zeigen, was zum Beispiel Jugendliche selbst verändern können und welche Kraft ihre Stimme hat.
So bestand mein Montag Abend also nicht nur daraus mit Jonas und Erica über die Unterschiede des deutschen und italienischen Schulsystems zu reden, sondern auch aus seitenweise Listen mit Studiengängen, die etwas für mich sein könnten. Mehrere Studieninteressentests und einem krakeligen Schmierzettel später hatte ich tatsächlich drei Studiengänge, die mir zusagten und bei denen ich auch jetzt jedes Mal ein Lächeln auf den Lippen habe, wenn ich mir die Beschreibungen und Module im Internet durchlese.
Dieses Hochgefühl brauchte ich am Dienstag auf Arbeit dann auch gleich, denn mit Spiegelreflexkamera und Stativ ausgerüstet hatten wir drei Freiwilligen vor, Bilder für die Social Media Seiten des HUBs und geplante Flyer zu machen. Wenn man dafür auf eine Mauer klettert und dann von allen Passanten erstaunt schief angeschaut wird, muss man sich wirklich keine Sorgen mehr darum machen, ob das breite Grinsen irgendwie aufgesetzt wirkt. Ein Lachen konnte ich mir auch nicht verkneifen, als Jonas Anna ironisch davon erzählte, dass es die kommenden Tage mit 20°C noch einmal richtig warm werden würde und Anna daraufhin ganz ernsthaft nickte und meinte, dass sie sich schon auf die sommerlichen Temperaturen freue. So unterschiedlich sind also die Wahrnehmungen. Im Winter werden die Schweden dann umgedreht wohl über uns lachen, wenn wir uns über -10°C beschweren.
Nachdem Jonas, Erica und ich den Mittwoch alleine im HUB verbracht hatten (Viktor war seit Anfang der Woche in Liverpool und Anna und Kristin für zwei Tage bei einem Seminar in Stockholm), war es am Donnerstag dann doppelt anstrengend dem Sprachwirrwarr zu folgen, das uns beim Gespräch mit dem IT-Beauftragten der Stadt erwartete. Hatte ich mich mit den anderen am vorherigen Tag noch die ganze Zeit auf Deutsch unterhalten, stand ich nun vor der Herausforderung, zwischen den englischen Erklärungen zur „General Data Protection Regulation“ und deren Folgen für die die Instagram- und Facebook-Seiten des Young Innovation HUBs, deutschen Absprachen zwischen uns Freiwilligen und schwedischen Fragen von Viktor zu wechseln. Aber auch da werde ich mit Sicherheit noch hineinwachsen.
Der Freitag begann mit einem doppelten Frühstück., wobei „doppelt hält besser“ an dieser Stelle auch wirklich zugetroffen hat. Wie gewohnt hatten Erica, Jonas und ich bei uns in der Wohnung mit entspannter Musik von der „My favorite Coffeehouse“-Playlist unser Müsli gegessen. Tatsächlich sind wir mittlerweile so weit, dass jeder seinen Stammplatz hat und ich mich, selbst wenn es nur zum Gemüseschneiden für das Abendbrot ist, egal was passiert, auf den Platz am Fenster setze. Schon total schwedisch hatten wir drei damit gerechnet, dass das „Meeting“ mit Viktor, Anna und Kristin um 9:30 Uhr eine Fika wäre. Als dann im Büro aber von einem richtigen Frühstück die Rede war und frische Eier, Brot, Käse, Joghurt, Zimtschnecken und natürlich Kaffee vor uns standen, hatten wir aber alle nichts gegen ein zweites Frühstück einzuwenden. Die Bezeichnung „Meeting“ hatte das ganze dann aber auch nicht verdient, denn wir sprachen zwar auch über die vergangene Woche und unsere Pläne für die nächsten Tage, aber Vitamin D in schwedischer Milch und Wandertouren auf „hohe Hügel“ der Umgebungen entsprechen dann doch eher einer lockeren Talkrunde. Neben dieser Überraschung hielt der Freitag aber auch noch mein Sprachtest-Ergebnis des Erasmus+ Online Sprachkurses bereit. Nach ungefähr 45 min schwedischer Grammatik, Aufgaben zum Wortschatz, Hörverstehen und Textverständnis stand fest, dass meine Schwedisch-Kenntnisse dem Niveau A2 entsprechen. Dabei hatte ich bisher nur ca. 5 Wochen mit einer Sprachen-App geübt und das auch nur bis zu meiner Ankunft hier in Åmål. In dem Sinne hatte das Ziehen in meinen Knochen also schon einmal auf jeden Fall recht, denn meine Ich-bin-in-Sprachen-eben-nun-einmal-nicht-talentiert-Einstellung hat sich jetzt schon geändert.
Genauso wie schon eigentlich immer ist jedoch geblieben, dass ich das Geräusch von Wellen einfach liebe. Mit geschlossen Augen am Ufer des Vänernsee, neben mir Erica mit ihrem Fahrrad, den Geruch von Nadelwald in der Nase. Was gibt es schöneres am Samstag außer vielleicht einen gemeinsamen Lachanfall bei Ericas Versuch Jonas und mir das italienische Kartenspiel „Scopa“ beizubringen? Manches ändert sich also vielleicht nie und so ein Ziehen in den Knochen und die ein oder andere Veränderung hier und da ist ja schließlich auch nichts Schlechtes!
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