Das Herz auf der Zunge
Auf der Straße sind sie sehr wortkarg und doch das gastfreundlichste Volk der Welt: Januschka erzählt von ihrer ersten Begegnung mit russischer Mentalität.
Nach zweieinhalb Wochen in St. Petersburg scheint mir der richtige Zeitpunkt, meinen ersten Eindruck über die Menschen in Russland und deren Mentalität in Worte zu fassen, denn, würde ich noch länger warten, würde dieser erste Eindruck verfliegen, und mein Russlandbild würde sich vielmehr aus meinen Arbeitskollegen und Menschen von meiner Aufnahmeorganisation zusammen setzen, weil ich mich dann schon an Alltägliches, an die Menschen auf der Straße gewohnt habe.
In Großstädten wie St. Petersburg herrscht erst einmal, wahrscheinlich, wie in vergleichbaren Großstädten auf der ganzen Welt, eine große Anonymität und Hektik. Das macht es Menschen, wie mir, die neu in der Stadt sind, schwer, sich einzuleben und Kontakt aufzunehmen.
So bin ich jetzt, am Beginn meines Jahres, immer noch nicht gewohnt, dass keiner auf der Straße lächelt oder mir in die Augen schaut.
Dascha, meine Koordinatorin hat mir, in einem Versuch, mir die russische Mentalität zu erklären, gesagt, dass Russen eher irritiert wären, wenn sie angelächelt werden würden, weil das hier einfach nicht gewöhnlich ist.
Mir erscheinen die Russen aber außerhalb ihrer Wohnung sehr unfreundlich und distanziert. Ich kann mich noch nicht damit anfreunden, dass man nur so wenig wie möglich mit Fremden spricht und, dann in destanziertem und kühlem Ton.
In Läden fällt mir diese Eigenart noch am meisten auf:
Es wird so gut wie nicht gesprochen. Die einzigen Worte, die fallen, sind: Wollen Sie eine Tüte?, 120 Rubel, Haben Sie noch 10 Kopeken?. Böser Blick, wenn man diese nicht hat. Meist kein Danke, kein Bitte, und nie eine Begrüßung oder Verabschiedung.
Für Russen ist dieser Umgang absolut normal, für mich ist es aber anstrengend, immer nur in ernste Gesichter zu blicken.
Sobald man aber eine Wohnung betritt, erfährt man die schönste Seite des russischen Charakters: Russen sind tatsächlich das gastfreundlichste Volk auf der Welt. Ob die Wohnung sauber, die Möbel neu oder schick sind, spielt keine Rolle. Bedeutsam ist hier, besonders freundlich zu sein, ein gutes Essen zu kochen, und sein Heim zu teilen.
Ein Sprichwort besagt, dass Russen ihr Herz auf der Zunge tragen und ein weiteres, dass sich der Proletarier deswegen den Psychologen spart. Ich denke, dass freundschaftliche und familiäre Beziehungen hier sehr eng sind, weil eben nichts verschwieden wird. Ein Russe fasst seine Gefühle in Worte, es ist kein Problem, auch mit neuen Bekannten über Heimweh oder Liebeskummer zu sprechen.
Sowie die russischen Ärztinnen, über die ich in meinem letzten Bericht schrieb, sind auch meine Arbeitskolleginen sehr herzlich und pflegen einen warmen und persönlichen Umgang. Auch räumlich bedeutet das eine geringe Distanz. Feste Umarmungen oder Küsse auf die Wange bestätigen mich während der Arbeit immer wieder, dass es gut ist, was ich tue.
Noch ist mir die russische Mentalität ein Rätsel, aber ich lerne jeden Tag dazu und merke, wie ich von Tag zu Tag selbst immer russischer werde...