Bis irgendwo in Europa
Ein Nachtrag zu einem Wochenende, das schon einen Monat zurückliegt: Meine Erfahrungen beim Europäischen Jugendparlament.
Seit ich vor einem halben Jahr vom Europäischen Jugendparlament gehört habe, wollte ich unbedingt mal mitmachen. Die Frage war nur, wo? Das European Youth Parliament, wie es auf Englisch heißt oder kurz auch EYP gibt es in vielen europäischen Ländern und als Deutsche in Polen hat sich die Frage gestellt, wozu ich denn jetzt gehöre. Allgemein finden im Jahr pro Land mehrere regionale Auswahlsitzungen für die Nationale Sitzung statt, bei der wiederum für die Internationalen Sitzungen ausgewählt wird. Zum Ablauf der Sitzungen komme ich später noch. Eigentlich hatte ich auf diesen Wettbewerbscharakter gar keine Lust und wollte das Ganze einfach nur ausprobieren.
Schließlich bekam ich eine Mail über die regionale Sitzung in Poznań oder Posen, wie ihr es eher kennen werdet. Da war ich vorher noch nie, obwohl es von Żary gar nicht weit entfernt ist. Also hab ich mich kurzerhand beworben und wurde auch genommen (das klingt jetzt vielleicht toller als es ist - ich bin mir ziemlich sicher, dass alle Bewerber von deutscher Seite genommen wurden). Wir waren letztendlich sechs Delegierte aus Deutschland und schätzungsweise sechzig aus Polen. Ich hatte auf mehr Diversität gehofft, aber es war ja auch nur eine regionale Sitzung.
Dafür waren die anderen Teams sehr international! Dazu gehören nämlich einmal noch die Chairs, die jeweils zu zweit eines der Komitees übernehmen. Die Journalisten, deren beinahe einzige Aufgabe das Fotografieren das Geschehens ist, was ich mir sterbenslangweilig vorstelle, sie scheinen aber eine Art Erfüllung darin zu finden. Außerdem das Organisationsteam, dessen Name sich quasi selbst erklärt und die Jury, die die bereits beschriebene Auswahl vornimmt. Weil ich aber ja keine Polin bin, war ich davon nicht betroffen und quasi nur schmückendes Beiwerk. Also genau das, was ich wollte!
Schließlich gab es noch den Präsidenten und seine beiden Vizepräsidenten, die aber auch nicht sehr viel älter waren als der Rest von uns. Insgesamt waren natürlich sehr viele Polen dabei, aber auch Ukrainer, Türken, Niederländer, Schweden und eben wir Deutsche.
Weil es schon am Samstagmorgen um acht Uhr losging, was organisationstechnisch ziemlich unglücklich ist, haben Ragna, eine andere deutsche Delegierte, und ich in einem Hostel übernachtet. Mein Zug war pünktlich, aber ihrer hatte sagenhafte 85 Minuten Verspätung. Trotzdem wurde es noch ein netter Abend mit Döner und einer Mini-Stadttour. Am Samstagmorgen haben wir Deutschen fast sofort durch Zufall zueinander gefunden, was im Nachhinein witzig ist, weil wir uns danach nur noch selten begegnet sind. Aber vielleicht ist das auch einfach auf die deutsche Pünktlichkeit zu schieben.
Wir wurden in unsere Komitees eingeteilt, die wir aber vorher schon über Facebook ein wenig kennengelernt hatten. Ich war in AFCO2, also zuständig für Constitutional Affairs. Konkret ging es bei uns um das Thema der niedrigen Wahlbeteiligung bei Europawahlen. Wir waren das kleinste Komitee mit acht Delegierten, von denen, oh Wunder, sieben Polen waren. Unsere Chairs waren Yuliia aus der Ukraine und Irek aus Polen, der tatsächlich jünger als ich war. Beide haben sich sehr ins Zeug gelegt und auch wenn sie meistens ziemlich gestresst waren, einen super Job gemacht.
Zum Glück waren die Englischkenntnisse aller Teilnehmer weit über meinen Erwartungen. Es war also kein Problem, durchgehend Englisch zu sprechen, auch wenn wir gerade nicht arbeiteten und Yuliia und ich nicht einmal am Gespräch teilnahmen. Das war wirklich sehr süß, weil sie das meistens nur für mich taten, aber auch wirklich konsequent. Nur morgens und abends bei allgemeiner Müdigkeit war Polnisch die Hauptsprache. Meistens hab ich es trotzdem verstanden und mich einfach ins Gespräch eingeklinkt, dann allerdings auf Englisch, weil das schneller ging. Die anderen schienen sich nie so ganz dran zu gewöhnen, es gab immer überraschte Blicke. Aber wenn ich seit fast acht Monaten in Polen wohne, sollte ich ein paar Wörter sagen können, ohne dass um mich herum Applaus ausbricht.
Mit den anderen habe ich mich super verstanden, obwohl einem nach drei Tagen durchgehenden Kontakts, wir haben uns auch als komplettes Komitee ein Zimmer geteilt, wobei natürlich die eine oder andere Sache auf den Wecker geht.
Der komplette Samstag stand im Zeichen des Teambuilding, das heißt, es wurden den ganzen Tag Spiele gespielt. Das war sehr lustig und wir sind auf jeden Fall gleich zusammengewachsen. Wenn ich aber den Stress des nächsten Tages bedenke, hätte vielleicht ein halber Tag auch gereicht. Am Abend gingen wir zusammen mit einem polnischen Organisator und unserem AFCO2-Journalisten aus den Niederlanden in einer Mischung aus Pizzeria und Pfannkuchenrestaurant essen. Dort setzten sie auf die Kombination der Farben Gelb und Pink, sehr viel Käse und Zucker auf der Speisekarte und eine Neon- und Einhornästhetik. Also nichts für schwache Nerven, aber der Traum aller Snapchatberühmtheiten, wie es auch eine in unseren Reihen gab. Ich bekam dort aber einen traumhaften Stapel Pfannkuchen mit Äpfeln, Zimt und Konfetti. Wunderbar!
Der nächste Tag begann mit dem Kampf eines Stockwerks um eine einzige Dusche und schließlich mit der Arbeit. Dafür wurde sehr viel unter Zeitdruck diskutiert. Letztendlich hab ich wohl eher gelernt, wie man so etwas erarbeitet als tatsächliche Inhalte, aber das ist ja auch okay. Allgemein ging es viel um die Themen Jugend und soziale Medien und unsere Aufgabe war, eine Resolution dazu zu verfassen. Ich denke, sie hätte noch besser werden können, aber wir hatten ja nur einem Tag dafür. Das Ausformulieren war Aufgabe der Chairs, während wir in gemischten Gruppen eine nächtliche Tour durch die Stadt machten, deren Sinn niemandem so ganz klar war. Sonst gibt es scheinbar immer eine Party, aber da hatte es mit der Organisation wohl nicht geklappt.Yuliia und Irek schickten uns die fertige Resolution gegen Mitternacht zu, was laut erfahreneren Teilnehmern vergleichsweise früh war.
Dann fing meine Aufgabe für den nächsten Tag erst an: Ich sollte für die Generalversammlung eine Defence Speech schreiben, also eine Art Begründung für unsere Lösungsansätze. Für diese Aufgabe hatte ich mich gemeldet, weil ich wusste, dass ich für die anderen am nächsten Tag spontan auf Kritik reagieren musste und, wie ich bei meiner mündlichen Prüfung festgestellt habe, ich unter Druck nur sehr schlecht funktioniere. Also ist es die Rede geworden, was hieß, dass ich bis halb vier morgens daran schrieb, während die anderen friedlich schlummerten. Dazu kam noch, dass ich ja noch nie eine derartige Rede gehört und dementsprechend keine Ahnung davon hatte. Die Chairs fanden sie am nächsten Tag aber zum Glück "perfect" und Irek sagte sogar, er hätte für so etwas vier Stunden gebraucht. Hab ich ja auch...
Trotzdem war ich ziemlich nervös und den anderen ging es genauso. Schließlich ging es um ein Publikum von fast 100 Leuten und die anderen wurden auch noch bewertet. Wir mussten uns für die Generalversammlung richtig in Schale werfen, mit Kleid, Anzug und was noch so zu finden war. Das Ganze fand in dem Hörsaal einer Uni statt, wobei wir neugierig von den Studenten beäugt wurden. Ein Komitee stellte jeweils seine Resolution vor, die dann von anderen Delegierten in sogenannten attack speeches von vorne bis hinten auseinandergenommen wurden. Darauf musste ein Mitglied wiederum eine Antwortrede halten und dann durften einzelne Kritikpunkte vorgebracht und erwidert werden, bis die abschließende Rede gehalten und abgestimmt wurde. Obwohl bei uns alles einigermaßen gut lief, war eine gnadenlose Mehrheit gegen unsere Resolution. Scheinbar kommt das aber oft vor und es hat sich niemand allzu sehr zu Herzen genommen. Hauptsache geschafft.
Jede Rede musste mit den Worten "Dear Mr President, honorable members of the board, distinguished guests and fellow delegates" beginnen, was ein bisschen merkwürdig war, wenn man mit dem Mr President gerade noch normal geplaudert hatte. Nach der Generalversammlung musste der Großteil von uns schon aufbrechen, um unsere Züge zu bekommen und es gab eine leicht überhastete Verabschiedung.
Obwohl ich meine Teilnahme in manchen aufgeregten Momenten bei der Generalversammlung ein wenig bereut habe, würde ich doch sehr gerne wieder teilnehmen. Vielleicht dann ja in Deutschland oder in den Niederlanden, wohin mich mein nächster Weg führt. Das EYP ist einfach ein tolles Konzept, das ich allen empfehlen kann, die Spaß an der Auseinandersetzung mit politischen Themen haben. Es würde mich freuen, die anderen einmal wiederzusehen, was vielleicht gar nicht so unwahrscheinlich ist. Schließlich hat Irek uns beigebracht: Beim EYP sagt man nicht "goodbye", man sagt "see you somewhere in Europe".
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