Auf den Spuren Kafkas
Kurzbiographie: Kafka schrieb über Käfer, doch war er kein Entomologe. Seine Werke zählen zum Kanon der Weltliteratur. Vor seinem Tod äußerte er den Wunsch, seine Schriften vernichten zu lassen. Prag war seine Stadt.
Ein Käfig ging einen Vogel suchen. Kafka, der kränkliche Sohn eines übermenschlichen Vaters – in Nietzsches Worten, unter anderem Kafkas Inspiration – das Vöglein im offenen Käfig Prag.
„Prag läßt nicht los. Uns beide nicht. Dieses Mütterchen hat Krallen. Da muß man sich fügen oder -. An zwei Seiten müßten wir es anzünden, am Vyšehrad und am Hradschin, dann wäre es möglich, daß wir loskommen.” (Brief an Oskar Pollak, 1902)
Kafka passt nicht hinein. In diese Prachtstadt voller Überschwänglichkeit. Kafka: verworren, unverständlich einsam, scheinbar unberührt von seiner Umgebung. Folgt man ihm literarisch, so will sich einem nicht erschließen, inwiefern Prag eine Verbindung zu Kafka haben kann. Man muss in der Geschichte graben. Das heutige Prag, es ist anders. Es ist nicht mehr Kafkas Prag, mit den Armutsvierteln, der segregativen Symbiose aus Deutschen, Tschechen und Juden oder der gemeinen Köchin, die einen auf dem Schulweg begleiten muss.
„In uns leben noch immer die dunklen Winkel, geheimnisvollen Gänge, blinden Fenster, schmutzigen Höfe, lärmenden Kneipen und verschlossenen Gasthäuser. Wir gehen durch die breiten Straßen der neuerbauten Stadt. Doch unsere Schritte und Blicke sind unsicher. Innerlich zittern wir noch so wie in den alten Gassen des Elends. Unser Herz weiß noch nichts von der durchgeführten Assanation. [...] Die ungesunde alte Judenstadt in uns ist viel wirklicher als die hygienische neue Stadt um uns. Wachend gehen wir durch einen Traum: selbst nur ein Spuk vergangener Zeit.” (Gespräche mit Kafka, 1920)
Es gibt keinen großen Lärm mehr, der Kafkas Zimmer zum Hauptquartier des Lärms machen könnte. Will man Kafka, diesen bis heute – und sei es aus Eigennutz – nicht vergessenen Sohn Prags, verstehen, muss man tief in sein Leben eindringen, statt nur an der Oberfläche zu kratzen.
Manches ändert sich nie. Langsam laufende Menschen, schon zu Kafkas Zeiten eine Qual, eine als Strafe empfundene Demütigung seitens der einen umgebenden, mäandernden Individuen. Auf der Karlsbrücke bin ich umzingelt von langsam gehendem Pöbel, Touristen, wirr wankend über den alten Stein. Über die Moldau, links und rechts, von vorne nach hinten mit Pausen, nicht zum Verweilen, sondern für Fotos. Um unfertige Abdrücke der wahren Schönheit, die mit keinem Objektiv der Welt eingefangen werden könnte, anzufertigen.
Abgesehen von der Gehgeschwindigkeit ist wenig wie früher. Die Fassaden erstrahlen in scheinbar altem Glanz, doch war Prag eben nicht immer Vorzeigemetropole eigentlich eines ganzen Kontinents. Leute gingen in die Altneuschul, diesem wunderbar schönem Oxymoron. Eine Metapher für Kafkas eigene Unentschiedenheit. Alt oder neu? Arbeit oder Leidenschaft?
„Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.” (Briefe an Felice, 1913)
Scheinbar war er seiner Sache sicher. War er es? Ein umfassendes Bild, in welchem sich Kafka selbst nur als Objekt eines größeren Kontextes sieht, hilft der Lösung auf die Sprünge.
„Es starrt im Mittelpunkt des imaginären Kreises von beginnenden Radien.” (Tagebuch, 1922)
Lesen Sie den Satz mehrmals. Ich musste es auch. Kafka bilanziere damit die Summe seiner nicht geglückten Lebensversuche, schreibt der Schweizer Schriftsteller und Essayist Jürg Amann. Im Innersten weiß Kafka, dass er an dieser Misere nichts ändern kann.
„Du bist am Ende, was du bist. Setz dir Perücken auf von Millionen Locken, setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken, du bleibst doch immer, was du bist.” (Faust. Der Tragödie erster Teil, Johann Wolfgang von Goethe, 1808)
Das wusste Goethe in seiner Äußerung als Mephistopheles schon bevor Kafka das Licht der Welt erblickte. Jedenfalls fand Kafka – wenn auch nur ungern – zur gleichen Erkenntnis. Prag war dabei stets das ihn umringende Heim. Er lebte nicht zurückgezogen, verkehrte in den Intellektuellenkreisen Prags. War in den Kaffeehäusern der Stadt zu Hause. So schwebt auch heute noch ein Hauch von Kafka in den Straßen. Prag ist ein sich stets erneuernder Organismus. Heute zeugen nach einer langen kafkafeindlichen Episode wieder Denkmäler, Plätze und ein Museum vom Leben des bekannten Pragers. Jede Erfolgsgeschichte braucht ein Ende, mag sie noch so schön gewesen sein. Etwas Primitives wie die Tuberkulose war es, das Kafka den frühen Tod einbrachte. Für ihn selbst war die Krankheit mehr als nur eine Laune des Körpers. Franz Kafka: der ewige Sohn. So heißt eine Biographie seiner. Kafka halte die Tuberkulose unter solchen Umständen für eine ihm längst vertraute Macht, die aus den seelischen Kämpfen der Vergangenheit als sichtbares Zeichen der Verletzung hervorgegangen sei. Auf diese Weise endet ein einsames Leben. Das Leben Franz Kafkas. Der Käfig hat es wieder eingefangen, das Vöglein Kafka. Eben als es losfliegen, einen größeren Radius ziehen, die nächste Stufe erklimmen wollte. Diesmal nicht der Käfig Prag, sondern das Leben, dessen Ernst, das Schicksal. Ein einer großen Persönlichkeit ein Ende setzender Äther, unscheinbar sich äußernd in der Schwindsucht.
Erst durch den Tod sind sämtliche Belastungen von Kafka abgefallen. Seine Werke sind – dank Max Brod, welcher ihm dessen letzten Wunsch nicht erfüllen wollte – es nicht. Sie leben fort, auch im Prag von heute. Und wer schon den großen Lärm nicht mehr hört, wird spätestens auf der Karlsbrücke, beim kollektiven Langsamgehen, in süßlichen Erinnerungen schwelgend, eine Nuance Kafkas in sich selbst entdecken.