136 Stunden in Tallinn
Routine? Janhkorte kann gut ohne leben: „Hier scheint immer alles improvisiert, zufällig, spontan zu sein, das gefällt mir. Alles ist möglich, nichts muss passieren.“
Mittagspause
Es ist wieder Sonntagmittag und ich war gerade bei der Bäckerei gegenüber der Sprachschule, um mir, wie jeden Sonntag, ein paar Leckereien auszusuchen und sie genüsslich in der Schule zu verzehren. Es ist aber kein Sonntag wie jeder andere, denn es ist der erste seit drei Wochen, dass ich wieder in Tallinn bin, und wird auch der einzige in den nächsten zwei sein.
Es ist wieder viel passiert. Manchmal habe ich das Gefühl, dass trotz aller Routine, die man sich hier ja nach einiger Zeit aneignet, es eigentlich überhaupt keine Routine gibt. Hier scheint immer alles improvisiert, zufällig, spontan zu sein, das gefällt mir. Alles ist möglich, nichts muss passieren. Es ist wie in einem Mikrokosmos, einem Abbild der Welt. Wie ein Test, ein Schein. Wir arbeiten hier, sind aber keine vollständigen Arbeiter. Wir wohnen hier, werden aber nie vollständiges Mitglied der Gesellschaft werden. Wir zeigen nicht die von uns erwarteten Resultate – kein Problem. Diese Ungebundene, „Freiwillige“ am Europäischen Freiwilligendienst ist doch was Schönes. Es ist oft Geben, aber viel öfter ein Nehmen. Nicht auf Dauer, aber für ein Jahr, warum nicht?
Ein Käfig voller Esten – außer uns!
Es ist wieder viel passiert. Februar ist der seltsamste und der ereignisreichste Monat bisher gewesen. Es fing alles damit an, dass die Nationalagentur ein Training für „Groupleader“ und Teilnehmer von Action 1 – Youth-exchanges organisiert hat. Da meine Organisation so eines im Februar in Narva-Jõesuu organisiert, wurde ich als Freiwilliger zum Training geschickt. So machte ich mich am 05.02. mit Mark und Jaan, zwei meiner Teilnehmer, auf ins Hotel Ecoland in Pirita. Das Training an sich war klasse, nur dass es komplett auf Estnisch war. Glücklicherweise kannte ich ein paar von den Trainern, vom On-Arrival-Training und als Ex-EVSer (in Estland sind die Nationalagentur-Leute schon bekannt wie bunte Hunde…), so dass mir bei Verständnisschwierigkeiten geholfen werden konnte. Problem Nr. 2: Meine Teilnehmer waren als einzige Russischstämmig. Alles andere waren Esten, und da Mark und Jaans Estnisch genauso unzureichend war wie meines (ich habe mich ganz schön für sie geschämt, sie leben schließlich schon ihr ganzes Leben hier), waren wir die Gruppe, die immer ein bisschen anders war. Immer fällt man hier auch auf…
Tori-Gori ruft
Am Montagabend war das Training zu Ende und gleich am nächsten Morgen ging es aufs Midterm-Training. Die Midterms werden immer für Estland, Lettland und Litauen zusammen organisiert; das Gastgeberland wechselt turnusgemäß. Dieses Mal war es in Estland (erst war ich enttäuscht, da ich auch mal wieder nach Lettland oder Litauen wollte. Im Endeffekt fand ich es aber toll, da ich schließlich nach Estland gekommen bin, um Estland kennen zu lernen). Die sieben Esten trafen sich also in Tallinn am Busbahnhof und fuhren gen Süden, denn das Midterm-Meeting sollte in der Nähe von Pärnu, mitten in der Prärie stattfinden. Das war es dann auch: Tori, das nächste Dorf, war 20 Minuten Fußmarsch entfernt und wir (sieben estnische Freiwillige, zwei Letten, vier Litauer, zwei Trainer und Marit von Euroopa Noored) wohnten abgeschieden im Schnee, in der Nähe eines kleinen Teiches, den wir zum Outdoor-Schlittschuhlaufen freischaufelten. Trotzdem waren wir nicht komplett abgeschnitten: Sogar in Tori, in unserer Unterkunft gab es 100 Prozent Handynetz und W-Lan. Estland eben. Natürlich durfte auch die Sauna nicht fehlen.
Insgesamt ist unser Midterm voll auf ein sehr geteiltes Echo gestoßen: Einige fanden es toll, andere total blöd – ich war in der Mitte. Am Anfang dachte ich: Oh Gott, so lange (fünf Tage) hältst du es niemals mit diesen Leuten aus. Die Gruppe und Marit stellten sich als super heraus, nur unsere beiden Trainer waren nicht so der Burner. Der Gipfel war, als er den Teddybären, der bei Gesprächsrunden rumgegeben wurde, statt „Karu“ (estnisch für Bär) einfach Gori taufte (ohne Zusammenhang), und das Tier somit „Tori-Gori“ getauft wurde. Skandalös (!) ;-)
Ich habe gelernt, dass die Gruppe noch so gut sein kann; wenn die Trainer es nicht drauf haben, kann es einfach nix werden. Schade! Dennoch bin ich mit vielen neuen Ideen, Plänen, Motivation davon gezogen, so auch für mein Future Capital. Dazu aber mehr das nächste Mal.
Samstagabend ging’s zurück nach Tallinn, am nächsten Morgen sollte dann also endlich der Austausch „Iceberg-of-Culture“ in Narva für mich beginnen. Ich war wegen des Midterms schon zwei Tage zu spät, so dass die estnische Delegation ohne Leiter da stand, aber wie mir versichert wurde, sind sie in dieser Zeit auch ganz gut ohne mich zurecht gekommen.
Väike-Venemaa
Es war witzig. Denn bewusst hat dieser Austausch in Ida-Virumaa, der Problemregion Estlands im Osten stattgefunden. Die Bevölkerung ist hier zu über 90 Prozent russisch; Arbeitslosigkeit ist relativ hoch, die Industrie liegt brach und die Gegend ist leer, oder wenn, dann mit alten Sowjet-Baracken gefüllt. In so einer haben wir dann auch gewohnt. Estnisch habe ich mich nicht mehr gefühlt. Vor allen Dingen als wir in Narva über die Brücke nach Russland, nach Ivangorod (oder estnisch „Jaanilinn“) sahen, konnte ich buchstäblich fühlen, dass Europa zu Ende war.
Andererseits habe ich schon lange nicht mehr so viel Lebensfreude gespürt. Wir waren sieben Nationen: Estland, Finnland, Slowenien, Polen, Tschechien, Litauen und Italien. Besonders die Italiener haben es mir angetan: Wow! Ich weiß jetzt, wie man zu LaBomba und anderen Tänzen tanzt, und wenn jemand mal down, depressiv, traurig ist, dann muss ich nur „La canzone della felicità“ singen, und alles wird gut!
Die Kommunikation mit meiner eigenen Gruppe war zwar manchmal etwas schwierig (da ich ja so gut wie kein Russisch spreche, und die estnische Gruppe nur aus Russen bestand), aber irgendwie haben wir uns dann schon verständigt. Narva ist jetzt vorbei, ich habe viel gelernt, gesehen, gemacht. Seltsam.
Es ist seltsam, dass diese „Meilensteine“ jetzt vorbei sind. Ich hab immer gesagt: Wenn das Midterm erst mal ist…das ist ja noch ewig hin! Und jetzt ist es auch schon wieder eine Woche vorbei!
Follow-up
Doch es geht weiter: Heute fahre ich mit Svenja mit der Fähre nach Stockholm. Und nächsten Freitag fliege in die Türkei. Klingt komisch, ist aber wahr. Auf unserem Midterm waren Fanny & Evren (zwei lettische Freiwillige aus Frankreich und Zypern). Sie fahren zu einem Youth-Work-Seminar nach Bursa südöstlich von Istanbul und zufällig waren für Estland noch zwei Plätze frei. So haben sie Marjon und mich gefragt, ob wir nicht mitwollen (Youthwork ist ja auch genau unser Thema hier) und so geht es nächsten Freitag von Tallinn via Frankfurt (fünf Stunden Aufenthalt in Deutschland!) nach Istanbul. Dann ist der Februar vorbei und ich war fünf Tage in Tallinn!
Ich freu mich wieder auf „zu Hause“! Aber genauso auf die Reisen!
Das nächste mal sicher Bilder von Schweden und der Türkei,
bis dahin
Head aega!