Zwischenbilanz
Europa in der Flüchtlingskrise. Zeit für eine Zwischenbilanz.
Die politische Dimension scheint wieder die Oberhand gewonnen zu haben über das Leid der Menschen, denn wenn dieser Tage über Flüchtlinge gesprochen wird, geht es um Dinge wie Verwaltungsversagen in den Kommunen oder den Türkei-Deal der EU. Seit die Zahlen der Menschen, die Europa erreichen (nicht die Flüchtlingszahlen allgemein, auch wenn das eine schöne wortspielerische Illusion ist) gesunken sind, können wir uns wieder zurücklehnen und mit einer gewissen Abgeklärtheit über eine Situation reden, die Europa völlig unvorbereitet getroffen hat. Und da das Leid uns nicht jeden Tag in Form von neuen Bildern erreicht, dass der Türkei-Deal Bilder aus den Camps wie Idomeni und Calais wohl bald der Vergangenheit angehören lässt, scheint die Mehrheit von Europa zu denken, dass wir unseren Teil getan haben. Politiker haben eine Lösung gefunden, Krise abgewendet.
Aber welche Demokratie lässt sich eigentlich angeblich beste Lösungen diktieren, ohne über Alternativen nachzudenken?
Der Türkei-Deal funktioniert nur, weil die EU bereit ist, Menschenrechtsverletzungen in Kauf zu nehmen
Wenn wir ehrlich zu uns sind, wissen wir längst, dass der Türkei-Deal nur funktioniert oder funktionieren kann, weil die EU bereit ist, Menschenrechtsverletzungen, die durch andere Staaten für sie begangen werden, in Kauf zu nehmen.
Bisher ist die gewünschte Wirkung ausgeblieben, der Deal, oder zumindest die Aussicht auf ein Abkommen mit der Türkei, würde die innereuropäische Situation entspannen. Noch immer sind Länder innerhalb der EU dabei, Flüchtlinge möglichst von sich zu weisen – es fehlt die Perspektive. Was wollen wir mit einem Abkommen, das uns die Akzeptanz von Menschenrechtsverletzungen und ein Bündnis mit einem demokratisch fragwürdigen Staat abverlangt, wenn es nicht einmal die Grundlagen von dem schafft, was es verspricht? Auch fehlt es an Sicherheit über die kausalen Zusammenhänge – ist der Türkei-Deal oder die faktische Schließung der Balkan-Route durch die beteiligten Länder dafür verantwortlich, dass weniger Flüchtlinge sich nach Europa auf den Weg machen?
Ganz zu schweigen davon, ob das System von Zurückschicken und Aufnehmen, wie es das Abkommen mit der Türkei vorsieht, in Zukunft wirklich so funktionieren wird, fehlt es bisher schon innereuropäisch an Solidarität, die Flüchtlinge zu verteilen, die bereits da sind. Victor Orban nannte es im März einen der größten Erfolge des Abkommens, dass mit dem Türkei-Deal keine Verpflichtungen zur Aufnahme von Flüchtlingen durch EU-Länder verbunden waren. Anfang Juli wurde bekannt, dass er über die Aufnahme von Flüchtlingen in Ungarn abstimmen lassen will, als sei intraeuropäische Solidarität optional und für ihn nur relevant, wenn damit Zahlungen an Ungarn verbunden sind. Er will sich also einem Volkswillen beugen, von dem er selbst weiß, dass dieser ihm dank populistische Parolen die Antwort liefern wird, die er hören will.
Ignoriert die EU Menschenrechtsverletzungen, widerspricht sie damit ihrer Gründungsidee. Wir können nicht Europäer_innen sein, wenn unser Recht, Europäer_innen zu sein, davon abhängt, dass anderen diese Identität verwehrt bleibt. Die EU wurde gegründet in einer Zeit, in der Abschottung und nationalstaatliche Belange den Kontinent dominierten, und sie hat es in jahrzehntelanger Arbeit geschafft, diese Fronten aufzuweichen. Es wäre eine Schande, wenn die EU jetzt an nationalstaatlicher Kleingeisterei zugrunde ginge, aber es wäre ebenfalls eine Schande, wenn die EU sich selbst zu einer Art erweitertem Nationalstaat stilisiert, den es vor Eindringlingen’ zu schützen gilt. Notfalls mit Gewalt.
Die EU selbst würde ja keine Menschenrechtsverletzungen begehen, zumindest technisch gesehen nicht. Mit welchen Mitteln die Türkei die Flüchtlinge an der Weiterreise nach Europa hindert, oder unter welchen Bedingungen sie dort untergebracht werden, sind Details, über die man allzu leicht hinwegsehen kann, wenn man möchte. Und die EU könnte immer noch bequem mit dem Finger auf die Türkei zeigen und entsetzt sein, als habe man das alles vorher nicht ahnen können, während sie selbst ihre Verantwortung gegenüber den flüchtenden Menschen nicht wahrnimmt.
Damit wäre ein Deal mit der Türkei einer, dessen Logik geschlossene Grenzen propagiert. Zunächst einmal die geschlossene ‚EU-Außengrenze’, aber warum nicht auch andere? Wenn Grenzschließung als Mittel aufgezeigt wird, das sogenannte Lösungen bringt, wird es bei einer geschlossenen Grenze nicht bleiben.
Die Untätigkeit der Kommission fördert intergouvernementale Herangehensweisen auf Kosten supranationaler Lösungen
Es geht nicht nur darum, dass die EU zu möglichen Menschenrechtsverletzungen schweigt. Auch die Tatsache, dass Ländern, die Grenzschließungen als Lösungsmethode nutzten, so lange freie Hand gelassen wurde, befördert das Gefühl innerhalb der Nationalstaaten, dass man sich wohl besser selbst helfen sollte. Zwar gibt Schengen durchaus die Möglichkeit zu vorübergehenden Grenzschließungen, aber die dürfte Europa wohl längst ausgereizt haben. Hier zeigt sich das Problem der EU: oft bleibt nicht viel mehr zu tun als Staaten abzumahnen. Wenn aber Mahnungen vonseiten der EU ohne Konsequenzen bleiben, was für einen Anreiz haben Länder dann, ihnen Folge zu leisten?
Auch das Fehlen einer durchsetzbaren, klar kommunizierten EU-Lösung verschärft hier das Problem. Die Kommission hätte die Chance gehabt, laut und deutlich Stellung zu beziehen: Stattdessen ließ ihre Stille nationalstaatliche Lösungen als ausweglos erscheinen, weil keine Alternative präsentiert wurde, die alle Staaten in die Verantwortung nahm. So wie vor einigen Jahren, als Italien selbst die Rettung der im Meer ertrinkenden Flüchtlinge überlassen wurde, und die EU nicht einmal die Kosten übernehmen wollte – implizit forderte man eine nationale Lösung, Dublin sei Dank. Letztes Jahr war es nicht anders, schlussendlich griff jedes Land zu seiner eigenen Lösung, ob es nun Grenzzäune waren wie in Ungarn, oder Deutschlands Entscheidung, die Flüchtlinge aus Ungarn aufzunehmen. In beiden Fällen schritten Nationalstaaten dort ein, wo die EU versagte oder es gar nicht erst versuchte.
Auch die Deutungshoheit über den Zustrom von Flüchtlingen blieb damit diversen Akteuren überlassen, die in erster Linie kein Interesse daran hatten, auf die humanitäre Dimension zu verweisen. Flüchtlinge wurden zum Problem, bei dem sich jedes europäische Land nur an die Nase zu fassen und ‚muss nicht!’ zu rufen brauchte. Nach und nach gab man allen EU-Staaten Zeit, ihre eigenen Bedenken über die Aufnahme von Flüchtlingen zu äußern, statt humanitäre Hilfe als elementare Pflicht eines jeden Staates zu definieren, der sich selbst europäisch nennen wollte (man nehme nur einige osteuropäische Länder, durch die ein Aufschrei ging als die Aufnahme von Flüchtlingen von ihnen verlangt wurde, als hätten südeuropäischen Länder nicht über Jahre hinweg trotz desaströser finanzieller Situationen Flüchtlingszahlen gestemmt, die sich der Rest von Europa nicht einmal vorstellen möchte).
Als mächtigste Akteure im Ringen um die Verteilung von Flüchtlingen haben sich also die Nationalstaaten und ihre Interessen erwiesen. Diese fundamental intergouvernementale Sichtweise auf europäische Integration und Problemlösung erschüttert das supranationalistische Selbstverständnis der Kommission, oder sollte es zumindest. Viel zu leise ergreift die Kommission selbst das Wort, sie bleibt reaktionär in der Hinsicht, dass die das Handeln anderen überlässt und dann erst selbst aktiv wird, aber auch dann nicht laut und deutlich für europäische Ansätze eintritt. Eine EU, die über dem Nationalstaat stehen will, kann sich das nicht leisten. Eine, die den Glauben in sich selbst verloren hat, kann das wohl.
Die Aufnahme von Flüchtlingen vor allem in west- und nordeuropäischen Ländern ist keine Frage des Könnens, sondern eine Frage des Wollens
Innerhalb dieser Abkehr von europäischen Ansätzen müssen Nationalstaaten Vorwände finden, um ihren Rassismus und ihre Abschottungspolitik zu verbergen. Eine gängige Strategie dabei ist es, die Angst der Mittelklasse vor dem sozialen Abstieg zu verwenden, um zu erklären, warum das eigene Land jetzt gerade nicht in der Lage ist, Flüchtlinge aufzunehmen. Das Argument: Mehr Flüchtlinge bringen Armut und werden soziale Leistungen in Anspruch nehmen, die ‚euch’ dann nicht mehr zustehen. Solches Denken wird dann von rechten Polemikern weiterentwickelt, und führt zu Wahlergebnissen wie in Österreich (deren knapper Ausgang hoffentlich jetzt ein zweites Mal verhindert werden kann). Dabei haben wir, in Europa – natürlich mit Rücksichtnahme auf regionale Unterschiede gerade wir in Nord- und Westeuropa – eigentlich einen recht bequemen Lebensstandard.
Das, wovor ‚die Mittelklasse’ in Europa sich wohl allerorts fürchtet – Kürzung von sozialen Leistungen, erhöhtes Renteneintrittsalter, usw. – schaffen die meisten Staaten in der EU auch ohne Flüchtlingskrise. Man werfe nur einen Blick nach England, dessen Gesundheitssystem ein wenig mehr Geld ganz gut vertragen könnte, oder nach Deutschland, mit dessen niedrigen Löhnen und hoher Produktivität andere europäische Länder schlicht nicht mithalten können. Hier geht der Aufschwung auf Kosten der Arbeiter im eigenen Land und auf Kosten anderer europäischer Länder.
Dass gerade Deutschland in der Lage sein sollte, die hohen Flüchtlingszahlen (die übrigens im Vergleich mit Ländern wie dem Libanon noch gering sind) zu bewältigen und die Menschen, die aus Leid und Not zu uns flüchten, sogar erfolgreich zu integrieren, zeigt allein die Tatsache, dass wir es im letzten Jahr geschafft haben, trotz einer verheerenden Wirtschafts- und Währungskrise von der sich ganz Europa noch erholt, einen ausgeglichenen Haushalt zu schaffen. Trotzdem scheint Unwillen zu herrschen, das Geld in die Hand zu nehmen – und dieser Unwillen herrscht nicht nur in der Politik, sondern auch unter den ‚Steuerzahlern’, die nicht wollen, dass ‚ihr Geld’ für ‚so welche aus dem Fenster geworfen wird’. Und dann kritisieren sie gleich hinterher die wahrgenommene Unfähigkeit des Staates, und den bürokratischen Irrsinn von langen Schlangen vor den Büros und von Asylanträgen, die nicht bearbeitet werden, weil die Kapazität fehlt. Davon kann man oft das Gefühl bekommen, dass die Hilfsbereitschaft innerhalb der Gesellschaft eine theoretische ist – dass es also durchaus möglich ist, dass jemand Refugees Welcome sagt, und gedanklich schon das erste Aber hinterherschiebt. Dem gegenüber stehen natürlich Menschen, die Unglaubliches geleistet haben in ihrer Bereitschaft, die mangelnde Organisationsfähigkeit des Staates aufzufangen und auszugleichen in den ersten Wochen und Monaten, und die auch heute noch mit bei der Sache sind. Beide Beispiele sprechen dafür, dass der Staat die Hilfsbereitschaft seiner Bürger sowohl über- als auch unterschätzt.
Wenn wir aber behaupten, aus wirtschaftlichen Gründen keine Flüchtlinge aufzunehmen, weil unser Land oder unsere sozialen Sicherungssysteme das momentan nicht stemmen können, dann sichern wir unseren Lebensstandard auf Kosten der Menschen in Syrien, auf Kosten der Flüchtlinge in der Türkei, in Idomeni und auf Sizilien, auf Kosten der Menschen, die im Mittelmeer ertrinken und auf die wohl auch manchmal geschossen wird, in diesem Fall in der Slowakei – das ist in höchstem Maße zynisch. Wer den Gedanken, dass wir aus wirtschaftlichen Gründen flüchtenden Menschen nicht helfen können bis zum Ende durchdenkt, wird feststellen müssen, dass dieses Argument auf der Annahme beruht, manches Leben sei mehr wert als anderes. Und dass dieser Wert allein am Geburtsort einer Person festzumachen sei.
Es scheint, als sei unsere Gesellschaft in großen Teilen unfähig, flüchtende Menschen nur als Menschen zu sehen und ihnen als solchen zu helfen.
Der Türkei-Deal wird uns als Realpolitik verkauft, aber der Realpolitik fehlt immer die Fähigkeit, eine moralische Antwort auf menschliches Leiden zu finden
Nicht umsonst hat Max Weber in seiner Rede über Politik als Beruf dafür plädiert, dass ein Politiker die Balance zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik zu halten hat. Rein aus realpolitischem Handeln lässt sich kein moralischer Imperativ zur Aufnahme von flüchtenden Menschen ableiten. Und daher können wir auch keine realpolitische Begründung formulieren, warum es gut und wichtig wäre, diese Menschen aufzunehmen. Ideen und Visionen zu formulieren fällt der deutschen Politik schwer, noch schwerer aber fällt es scheinbar, von Werten zu sprechen, die auch die Grundlage des Handelns einer christlichen Partei sein sollten: Nächstenliebe, Mitgefühl. Daher muss die Aufnahme von Flüchtlingen mit deren wirtschaftlichem Wert begründet werden, was jedem halbwegs vernünftig denkenden Menschen sauer aufstoßen müsste. Als hätten wir keine andere Verpflichtung in dieser Situation, außer uns um unseren eigenen Wohlstand zu sorgen.
Wenn es uns als Gesellschaft – oder zumindest der Politik – nicht gelingt, eine moralische Verpflichtung für die Aufnahme von Menschen in Not zu formulieren, dürfen wir uns nicht wundern, dass Teile unserer Gesellschaft dies ablehnen. Die nüchterne Abgeklärtheit von Realpolitik inspiriert nicht gerade zu menschlichem Miteinander.
Europa macht es uns Europäer_innen schwer
Ob auf nationaler oder europäischer Ebene, die Krise ist nicht vorbei, nur, weil gerade der Brexit in ist. Immer noch befinden sich Menschen auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung in ihren Heimatländern. Immer noch befindet sich die EU auf einem Kurs, der weit von gemeinsamem Handeln auf Grundlage einer gemeinsamen Vision entfernt ist, und sie scheint das auch nicht ändern zu wollen. In einer Zeit, in der die EU so wenig Profil zu einem so wichtigen Thema zeigt, weil es vielleicht einige der etwas rechter orientierten Mitgliedsstaaten verärgern könnte, fällt es wirklich schwer, sich mit Stolz Europäer_in zu nennen: Wie können wir einen EU-Lösungsansatz unterstützen, wenn die EU selbst nationale Lösungen zu bevorzugen scheint?
Europäische Politik nach dem Brexit ist natürlich mehr denn je ein Balanceakt, um keine schlafenden Drachen in anderen Mitgliedsstaaten zu wecken. Aber Menschen hören nicht auf zu fliehen, weil die EU gerade ihren innenpolitischen Scheidungsprozess durchläuft und noch nicht ganz klar ist, wer die Kinder behalten darf. Das im Blick zu behalten fällt vielleicht schwer, weil andere Krisen so gelegen kommen, um sich abzulenken. Aber es wäre wichtig für eine EU, die sich weiterhin als Friedensprojekt definieren will, dass sie wenigstens den Versuch unternimmt, eine Lösung zu finden, um das Leid von flüchtenden Menschen zu mindern. Dann würden sich vielleicht auch wieder mehr Menschen mit Stolz Europäer_in nennen, und darunter würden dann vielleicht auch einige sein, die nicht in Europa geboren sind. Zu hoffen wäre es.