Zwischen Fremdheit und Vertrautheit - Ein Auslandssemester in Istanbul
Ein Aufenthalt im Wechselbad der Gefühle.
Du hast dir fest vorgenommen offen zu sein. Offen für eine neue Kultur. Offen für eine neue Sprache und für neue Erfahrungen.
Doch da sind so viele Menschen. Du bist noch nie in so einer großen Stadt gewesen. Doch diese Stadt ist nicht nur groß, sehr groß, sie ist auch unheimlich chaotisch. Und es gibt Autos, viele Autos. Wenn es dunkel wird, und man von oben auf sie hinunter schaut, sieht es richtig schön aus. Wie eine lange Lichterkette. Eine Lichterkette zwischen zwei Kontinenten. Doch die Menschen sprechen eine andere Sprache. Eine ganz andere Sprache.
Wer erklärt dir diese Welt? Und wie willst du dich in ihr verständigen?
Kalt peitscht dir der Januar-Wind um die Ohren. Warum hast du nur deine dicke Winterjacke Zuhause gelassen? Und wieso hat dir niemand gesagt, dass es hier so kalt sein kann? Du fragst dich, auf was du dich da eingelassen hast. Du, als Landkind, für ein halbes Jahr in Istanbul. War dir nicht klar, dass dies keine normale Großstadt ist? Dass Istanbul die drittgrößte Metropole der Welt ist? Und dass ein Auslandssemester kein Wochenendtrip ist? Du kannst nicht einfach abreisen und sagen: „Schön, dass es dich gibt, liebe Stadt, aber ich bin dann mal wieder weg.“ Du musst hier leben. Richtig leben, mit einkaufen und zur Uni und vielleicht auch mal zum Arzt gehen. Gib´s zu, du hast es verdrängt. Verdrängt, um mutig genug zu sein. Mutig genug, um ohne deine warme Jacke zu gehen. Loszuziehen. Los in eine fremde Welt. In eine Welt, in der du deine Jacke bald nicht mehr brauchen wirst.
Denn da ist mehr. Mehr als Fremdheit. Mehr als Fremdheit und Einsamkeit. Da ist Aufregung, Faszination und Liebe. Da ist ein Kribbeln. Ein Kribbeln in deinem Bauch. Ein Kribbeln, so stark, dass du nachts nicht schlafen kannst. Du bist verliebt. Verliebt in die Möwen und in den Basar.
Und warum hast du dich überhaupt allein gefühlt? Du bist nicht allein. Es gibt viele Erasmus-Studenten. Sehr viele Erasmus-Studenten. Und auch wenn du dir fest vorgenommen hast, auf keinen Fall Teil einer Erasmus-Welt zu werden, es sind deine Erasmus-Freunde, die dir helfen, die dich verstehen. Sie bieten dir eine Komfortzone. Einen Rettungsanker. Einen Rettungsanker in der Fremde. Einen Anker zum Anklammern und Verschnaufen. Verschnaufen bis es wieder geht. Hinaus zum nächsten Abenteuer.
Du bist her gekommen, um Land und Leute kennenzulernen. Daher lernst du Türkisch. Der Unterricht macht dir Spaß und du lernst viel. Sehr viel. Doch um Leute nach dem Weg zu fragen, musst du dich trauen. Dich trauen Fehler zu machen. Fehler, die die Menschen lieben. Fehler, die ein Zeichen sind. Ein Zeichen für einen Menschen, der eine Brücke baut. Eine Brücke der Liebe und eine Brücke des Vertrauens.
Du liebst die Menschen und du liebst eure Brücken. Du möchtest weitere Brücken bauen. Immer mehr. Dazu brauchst du Wörter. Denn aus Wörtern werden Sätze und aus Sätzen Unterhaltungen. Wie ein Puzzle. Ein Puzzle, das sich Stück für Stück zusammensetzt und das nur so schwer zu beschreiben ist. Es ist bunt. Sehr bunt. Ehrfürchtig betrachtest du es. Deswegen bist du her gekommen.
Doch irgendwann merkst du, du wirst es nicht beenden können. Deine Zeit ist begrenzt und dieses Puzzle nicht leicht. Viele Teile liegen herum. Du willst mehr. Mehr verstehen. Mehr mitteilen. Da ist sie wieder, deine Freundin. Deine Freundin aus der Anfangszeit. Die Fremdheit. Fast hättest du sie vergessen. Ihr kennt euch. Letztes Mal hat sie dich verlassen. Doch dieses Mal bist du es die geht. Zurück in die alte Heimat. Auch ihr kennt euch. Und das schon lange. Sehr lange. Du freust dich. Auch wenn ihr euch erst aneinander gewöhnen müsst. Denn du hast viel erlebt. Sehr viel erlebt. Nun kannst du dich bei einem Glas türkischen Tee zurücklehnen und in Erinnerungen schwelgen. Türkische Restaurants gibt es zum Glück genug. Und jedes Mal, wenn du jemanden Türkisch sprechen hörst, hüpft dein Herz. Nein, es springt vor Freude. Und du merkst, das Fremde ist ein Teil von dir geworden.
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