Wo Süditalien auf den Balkan trifft
Zwischen den Villen ehemaliger sozialistischer Funktionäre, unverputzten Plattenbauten und tausenden Fahrrädern ist die albanische Hauptstadt Tirana gerade dabei, sich neu zu erfinden. Das bunteste Stadtviertel der Welt, 29. Hauptstadt der Europäischen Union, ungebremster Bau-Boom - an Selbstbewusstsein mangelt es nicht angesichts der hochgesteckten Zukunftspläne. Bericht aus einer Stadt, die sich irgendwo zwischen süditalienischem Flair und albanischer Gelassenheit einordnen lässt.
Ein bisschen fühlt man sich schon an die stickigen Gassen von Neapel erinnert, wenn der Weg abseits der Hauptstraßen in kleinere, meist mit Abfall jeglicher Herkunft vollgestopfte Straßen führt. Oder wenn die unzähligen Fahrradfahrer und Mofas sich laut huppend und wild gestikulierend ihren Weg durch das Chaos albanischer Verkehrsalbträume suchen. Es ist selbst als Nicht-Tiraner keineswegs schwer, die Spuren der albanischen Vergangenheit bei einem Spaziergang durch die 616.000 Einwohner starke Metropole zu finden. In den Cafés der belebten Fußgängerzonen sonnt man sich bei Espresso oder Capuccino, im Fernsehen läuft Juventus Turin, die Außenfassaden der Ministerien am zentralen Skanderbeg-Platz ließen sich eher in Palermo denn in Albanien vermuten.
Tatsächlich ist es keine Seltenheit, zwischen den Gesprächen der lokalen Bevölkerung hin und wieder italienisches Vokabular auszumachen - können sich doch die meisten Albaner fließend auf Italienisch unterhalten und empfangen Kabelfernsehen vom Nachbarn in Übersee. Es wirkt fast schon erstaunlich, wie trotz vier Jahrzehnten kommunistischer Indoktrination die italienischen Einflüsse nach der Besetzung Albaniens 1939 scheinbar unberührt blieben - oder gerade wegen jenen lehrreichen vier Jahrzehnten ist Italienisch nach wie vor weit verbreitet, waren die TV-Sender vom "Stiefel" doch frei von jeglichen Inszenierungen und Propaganda á la Diktator Enver Hoxha.
Albanien in der Post-Hoxha-Zeit: Erwachen aus dem 41-jährigen Dornröschenschlaf
Zunehmend erwacht Albanien aus seinem historisch bedingtem außenpolitischen Tiefschlaf. Seit 2009 ist der fünftgrößte Staat auf dem Balkan Mitglied in der NATO, noch größer sind die Hoffnungen auf einen baldigen EU-Beitritt, ist man ja zumindest seit Sommer 2014 offizieller Beitrittskandidat. Noch stärker zeigen sich die Entwicklungen in der Zeit nach Hoxha an der albanischen Hauptstadt selbst: Lebten mit dem Fall der kommunistischen Idee 1991 noch 400.000 Einwohner im Ballungsraum Tirana, so hat sich knapp 30 Jahre später die Bevölkerung bereits verdoppelt! Diese demographische Explosion ist auch eine der Hauptgründe für die oft zu beobachtenden Blicke verwirrter Touristen, die sich nur allzu leicht in den unübersichtlichen Netzen von Straßen und teilweise illegal errichteten Gebäuden verlaufen. Bevor man sich also hilfeschreiend an sein Handy klammert und die Hieroglyphen albanischer Straßennamen bei Google Maps zu entziffern versucht, empfiehlt sich ein Blick über die Dächer von Tirana.
Den besten Blick über das quirlige Leben genießt man daher von der Terasse des Sky Towers, wo sich in über 60 Metern Höhe eine neue Perspektive über die Ausmaße Tiranas eröffnet: Herz der Innenstadt und zentraler Treffpunkt zum "Sehen und gesehen werden" ist der Skanderbeg-Platz, gleichzeitig lebender Beweis für die wechselseitige Geschichte der Hauptstadt. Zum einen wären da - kaum zu übersehen – der pompöse Kulturpalast sowie das Nationalmuseum mit dem überdimensional großem Mosaik; charakteristisch für das Verständnis kommunistischer Regime, wie eine "Verschönerung" der Stadtzentren auszusehen habe. Weniger Verständnis für das Erbe der osmanischen Epoche in Tirana hatte allerdings Albaniens Langzeitdiktator Hoxha und ließ für den Ausbau des Skanderbeg-Platzes in den 1960er Jahren kurzerhand den alten Basar zerstören. So zeugen nur noch die Et'hem-Bey-Moschee und der alte Uhrturm vom Glanz vergangener Jahrhunderte.
"Früher von Soldaten bewacht und abgerigelt, heute das angesagte Vergnügungsviertel: Bilder von tanzenden jungen Menschen haben Erinnerungen an Hoxha und seine Getreuen in Blloku verschwinden lassen"
Betrachtet man den Skanderbeg nun als das pulsierende Herz des Zentrums, so tragen die kilometerlangen Hauptstraßen und Alleen, die sternförmig von allen Himmelsrichtungen aus zu ihm führen, das hippe Lebensgefühl in die anderen nicht weniger interessanten Stadtteile. Da wäre unweit des Stadtzentrums das vor allem unter jungen Tiranern beliebte Viertel "Blloku"; Vergnügungsviertel schlechthin mit seiner Vielzahl an Klubs, Restaurants und Cafés, hundertprozentiger Garant für sowohl lange als auch durchzechte Nächte. Kaum vorzustellen, dass sich vor nicht einmal 40 Jahren in den alten Villen mit den großräumigen grünen Oasen kommunistische Funktionäre um Enver Hoxha vor dem restlichen Volk versteckten und in ihrer eigenen abgeschirmten Parallelwelt lebten. Auch die Metamorphose dieses Stadtteils steht sinnbildlich für das neue Albanien, das aus dem Schatten der Vergangenheit tritt und die 41 Jahre dauernde Isolation unter Hoxha abschüttelt. Bilder von tanzenden Menschen haben Erinnerungen an jene Tage abgelöst, als Blloku noch von Soldaten abgeriegelt und der normalen Bevölkerung jeglicher Zutritt strengstens untersagt wurde.
Eine Stadt, weniger voller Sehenswürdigkeiten, dafür umso mehr voller Leben
Eigentlich könnte man Tirana und seine Einwohner bemitleiden; sowohl für Stadt als auch für deren Einwohner sind die Stereotype einer verwahrlosten und für Fremde gefährlichen Gegend weiter verbreitet als die Erfahrungsberichte über die albanische Gastfreundlichkeit. Wer nicht überzeugt ist, sollte selbst Albanien auf die nächste Reiseliste setzen und sich überzeugen, dass Tirana weit aufregender und einzigartiger ist als sein Ruf. Die Aufbruchstimmung, vordergründig unter der jungen Bevölkerung, sowie das Interesse an Europa und Fremdsprachen ist außergewöhnlich; als Tourist wird man kaum zehn Minuten durch Tirana laufen können, ohne nach der Herkunft, dem Wohlbefinden oder ganz einfach dem Eindruck des Landes gefragt zu werden. Einladungen zu selbstgemachten Rakija auf einem der zahlreichen Märkte inklusive, versteht sich.
Tirana weiß weniger mit seiner Anzahl an Sehenswürdigkeiten oder hohen Bewertungen auf Tripadvisor, als viel mehr mit seiner offen ausgetragenen Lebendigkeit zu überzeugen. Kinder und Jugendliche turnen auf dem Betonskelett der sogenannten Pyramide von Tirana, die eigentlich als Grabmal und Museum für den berüchtigten Hoxha errichtet wurde; Premierminister Edi Raman macht sich verstärkt für ein grünes und lebensfrohes Stadtbild stark, wodurch bereits einer Vielzahl grauer Plattenbauten als Erben Hoxhas ein farbenintensives Gesicht verliehen wurde. Die wie aus dem Boden schießenden Pilzköpfe der Bunker - insgesamt verteilen sich etwa 800.000 über das gesamte Land - beherbergen heutzutage zwei Museen im Stadtzentrum über die bewegte albanische Geschichte.Im Rahmen des sogenannten Großprojektes "Tirana 2030" stehen so neben der Schaffung neuer Grünoasen auch die Revitalisierung der Hoxha-Pyramide auf dem Programm, geplant ist ein Technologie- und Kulturzentrum.
Sitzt man nun nach einem langen Tag durch das Chaos der Tiraner Straßennetze entspannt in einem der vielen Cafés oder traditionellen Gasthäuser und lässt das Erlebte Revue passieren, so bleiben vor allem die Gegensätze dieser Metropole in Erinnerung. Paradox mag es erscheinen, wenn sich in den von der Abendsonne angestrahlten Glasfassaden der Fünf-Sterne-Hotels verfallene Häuser und ärmliche Siedlungen widerspiegeln, wenn das Grabmal eines mörderischen Politikers zum Spielplatz der Kinder wird, wenn Regenbögen und Comicfiguren über dem grauen Beton alter Bauten strahlen. Tirana, das ist nicht nur hinsichtlich seiner Einwohner eine der jüngsten Hauptstädte Europas, sondern auch standhafter Beweis, niemals nur den negativen Geschichten zu glauben - warum also nicht schon neue Pläne für den Sommerurlaub schmieden?!
http://postcardsfromalbania.com/2018/06/13/tirana-2030-albaniens-groesste-baustelle/
http://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/abfeiern-in-albanien-hipster-studenten-kapern-kommunisten-viertel-a-767198.html
https://www.zeit.de/2011/10/C-Albanien
http://albania.al/destination/8/tirana/
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