Wir sind Europa!
Der verstorbene Soziologe Ulrich Beck war nicht nur einer der meistzitierten Wissenschaftler seiner Fachrichtung, sondern auch ein überzeugter Europäer. In seinem Manifest „Wir sind Europa!“ forderte er ein EVS für alle Bürger
Der Streit, in welche Richtung Europa steuern soll und was dieses Europa, das dorthin lenkt, überhaupt ausmacht, verläuft entlang vieler Gräben. Gerne wird auf „die da oben“, die fernen Brüsseler Bürokraten geschimpft, während Politiker verzweifelt versuchen, ihr Wahlvolk an die Urnen zu bringen. Dass dies zur Europawahl 2014 meist den rechten bis rechtspopulistischen Parteien gelang, zeigte sich quer durch alle Mitgliedstaaten und wiederholt sich in nationalen Wahlen. In Nordeuropa bröckelt die Solidarität mit den krisengeschüttelt Südländern. Die Griechen, Spanier oder Italiener fühlen sich dagegen wahlweise von der EU allein gelassen oder bevormundet.
Als Intellektuellen mit erfolgreicher akademischer Laufbahn kann man Ulrich Beck leicht in die Ecke der Eliten stellen. Nun mag man den Eliten ja vorwerfen, dass sie ihr tolles Konstrukt Europa fernab der Wirklichkeit basteln, aber Beck fordert in seinem Manifest eine sehr konkrete Beteiligung für alle Bürger. Sein Mitverfasser der Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit ist durch seine deutsche und französische Politikerfahrung ein wahrer Europäer.
Die Beiden bekräftigen „Wir sind Europa!“ und erläutern, wie unser Europa von unten erneuert werden kann. Als Erstunterzeichner bekennen sich Politiker unterschiedlichster Coleur wie Joschka Fischer, Martin Schulz oder Richard von Weizsäcker zu dieser Idee.
Sie alle rufen die europäischen Entscheider von der Kommission bis zu den Nationalregierungen auf, ein Freiwilliges Europäisches Jahr für alle zu entwickeln. Ganz klar berufen sie sich dabei auf die bestehenden Strukturen des EVS und Erasmus. Der Aufruf entstand 2012 als das neue Programm „Erasmus+“ noch in der Planung war. Ein Ende der Krise (Banken, Finanzen, Arbeitsmarkt und Identität) war und ist noch nicht in Sicht und die Jugendarbeitslosigkeit hält sich auf bedrohlich hohem Niveau. Deshalb ist der EVS in seiner bisherigen Form bereits wertvoll. Wir deutschen Abiturienten haben es doch ehrlich gesagt, besonders der Selbsterfahrung wegen genutzt, aber für viele Freiwillige, denen ich begegnet bin, war es eine Notwendigkeit im Ausland nach Jobmöglichkeiten zu suchen. Aber, und das ist genauso wahr wie traurig, waren es doch nie wirklich benachteiligte Jugendliche, sondern fast alles Bachelorabsolventen. Wie viele von euch sind denn einem Freiwilligen begegnet, der nur die Mindestanforderungen erfüllt?: vom Lande, ohne höheren Bildungsabschluss, geringe Fremdsprachenkenntnisse und wahrscheinlich noch männlich.
Der EVS als gut gemeint, aber nicht gut gemacht? Meine persönlichen Erfahrungen widersprechen dem. Jede kleine positive Erfahrung macht die europäische Idee etwas überzeugender. Erst viel später ist das vielleicht erfahrbar, wenn man über eine Erinnerung erneut stolpert. Wie gastfreundlich unsere Nachbarn sind und wie selbstverständlich Fremde den Weg gewiesen bekommen oder mit Essen versorgt werden. Dass Spracherwerb mühsam ist, aber genauso lohnenswert – und wer selbst ständig „Ich verstehe nicht“ sagen musste, entwickelt Geduld für andere. Und jedes Kind wird dich anlächeln, denn es versteht auch ohne Worte, wer ihm Liebe entgegen bringt. Vorurteile von und über Deutsche lassen sich mit etwas Offenheit, Freundlichkeit und am besten mit Humor leicht überwinden. Und hier kommen wir zu einem weiteren Punkt des Manifests, an dem ein berühmter Amerikaner zitiert wird: Präsident Kennedy sagte seinen Landsleuten „Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann, fragt, was ihr für euer Land tun könnt.“ Ein Europa von unten funktioniert nämlich nur, wenn es aktiv gestaltet wird. Wir sind alle verantwortlich, finden die Verfasser. „Doing Europe“ dürfe nicht den Eliten überlassen werden, denn sie suchten noch immer nach Lösungen für transnationale Probleme wie Klimawandel, Migration und Rassismus. Wenn Wirtschaft und Politik die Rahmenbedingungen schaffen für einen Freiwilligendienst für alle, „für Taxifahrer und Theologen, für Angestellte, Arbeiter und Arbeitslose, für Musiker und Manager, für Lehrer und Lehrlinge, Künstler und Köche, Richter und Rentner, für Frauen und Männer“, dann beteilige sich jeder Bürger. Es geht um Teilhabe, aber nicht um Perfektion. Beck und Cohn-Bendit nennen unser Europa „ein Labor politischer und sozialer Ideen, wie es das nirgendwo sonst gibt.“. Vielleicht sollten wir uns daran öfter mal erinnern; statt zu schimpfen, lieber überlegen wie wir dazu beitragen, „Europa mit Leben und Lachen zu füllen.“. Dass Europa das wert ist, daran zweifelte der Menschenkenner Beck nicht.
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