Willkommen im Paradies!
Ob schwarz oder weiß, ob "Wessi" oder "Ossi", ob schüchtern oder selbstsicher, ist egal: jeder findet sich in einem Team, um zusammen das Paradies aufzubauen. Ein begeisternder Bericht über das "Brückenbauen" in Europa.
Als mir im April 2011 Anne Neumann, eine Freiwillige aus Jena, vorschlug, doch einmal zu versuchen, einen Antrag zur Teilnahme an einem Freiwilligenprojekt in Jena zu stellen, überlegte ich nicht lange und antwortete gleich: „Da will ich hin!“ Schon so lange hatte ich von Deutschland geträumt, dass es mir beinahe gleichgültig war, an welchem Projekt ich mitmachen würde. Dabei hatte ich mit Jena richtig Glück!
Das Ausfüllen des Antrags, ein langer Briefwechsel per E-Mail mit der mir damals noch unbekannten Heide Bäß, das quälende Warten auf die Teilnahmebestätigung am Programm, die drei Termine im Deutschen Konsulat in Moskau, um das Visum zu erhalten, – all das lag endlich hinter mir. Und schon setzen mich meine Freunde in den Bus von Wladimir nach Moskau. „Lebt wohl! Für ein ganzes Jahr! Aber ich komme bestimmt wieder!“ Das Flugzeug. Da ist es! Das langersehnte Flugzeug nach Berlin! Der Abschiedsschmerz von der Abreise macht der Vorfreude auf das neue Leben Platz, voller unbekannter Erlebnisse.
Aus dem Fenster ist endlich der Fernsehturm auf dem Alexanderplatz zu erkennen. Der Flughafen Tegel. Mein Gepäck hatte man aus welchem Grund auch immer schon vom Band genommen und wurde offenbar irgendwohin weitergeleitet. Ich war wohl zu lange an der Passkontrolle angestanden. Eine Frau, die überhaupt kein Deutsch sprach, fand sich in der gleichen Notlage wieder. Sie geriet allmählich in Panik. Es war ihre erste Deutschlandreise, und da begannen gleich schon die Probleme mit dem Gepäck. Ich bewahrte aber die Ruhe. Irgendwo tief drinnen wusste ich, dass ich gerade hier keinen Grund zur Sorge hatte. Hier funktioniert alles wie in einem Uhrwerk. Unser Gepäck fanden wir schließlich ebenso mühelos wie den Weg zum Bus.
Berlin, Hauptbahnhof. Heide Bäß hatte mir per E-Mail eine seltsame Nummer geschickt, von Hand geschrieben auf ein gescanntes Blatt, die ich in den Fahrkartenautomaten eingeben sollte… Gut, dass mein alter Freund Sebastian, der im März 2010 in Wladimir zu Gast war, Zeit gefunden hatte, mich am Bahnhof zu treffen und mir gleich auch mit der Fahrkarte zu helfen! Und da ist er schon, der ICE, dieser futuristische Schnellzug, wie ich ihn von Bildern aus Deutschland kannte! Und ich hatte einen Sitzplatz dort reserviert. Jetzt kann auch ich diese Geschwindigkeit genießen. Doch dann hatte die Sache doch gar nichts Übernatürliches an sich. Auch nicht mehr als einfach ein Hochgeschwindigkeitsverkehrsmittel. Zumal ja auch bei uns der Sapsan schon lange läuft, gekauft bei Siemens.
Rasch kam nun der langersehnte Moment: Ankunft in Jena. Schon allein der Name des Bahnhofs ist vielversprechend – Jena Paradies. Anne Neumann mit ihren Freunden, Heide Bäß und André Güllmar, mein Betreuer bei der neuen Arbeit. Alle waren sie gekommen, mich abzuholen. Welche Ehre! Eine ganze Delegation. Fehlte nur noch das Empfangsorchester! Willkommen im Paradies!
André brachte mich mit seinem Auto in mein neues Zuhause, das wir später “Casa Loca Internationale” nannten, was man frei aus dem Spanischen übersetzen kann mit “Internationales Narrenhaus”. Die Bezeichnung oder besser der Spitzname hat übrigens durchaus seine Berechtigung. Freiwillige aus ganz Europa und angrenzenden Ländern treffen hier zusammen und verteilen sich auf drei Stockwerke. Junge Leute aus Bulgarien, Spanien, Italien, aus der Slowakei und der Türkei, aus Rumänien und sogar meine Kollegin vom „Euroclub Vladimir“, Natalia Kostina, haben hier ein Dach gefunden. Einige Freiwillige blieben nach Ablauf ihres Programms in Jena und besuchten uns immer wieder. Kurzum, wir waren stets in großer Runde zusammen, und es ging laut zu. Eine ständige Abfolge von verschiedenen Themenabenden, Vorführungen von Filmen aus unterschiedlichen Ländern, eine internationale Küche, kulturelle Veranstaltungen in verschiedenen Einrichtungen Jenas, die gemeinsame Arbeit bei Stadtfesten und Festivals, die Freiwilligentreffen bei Conny Bartlau, Geburtstagsfeiern, die Ankunft neuer Freiwilliger, die Verabschiedung von “Altgedienten”, das Freiwilligenfest, die Reise zu einem Rockfestival in Würzburg, die Bootsfahrt auf der Saale, unendliche Grillabende mit Thüringer Rostbratwürsten und natürlich mit Bier.
Die ununterbrochenen Austauschmaßnahmen im Rahmen des Partnerschaftsdreiecks Wladimir, Jena und Erlangen ließen keine Langeweile aufkommen. Die Arbeit an der Ausstellung über deutsch-deutsche Städtepartnerschaften war für mich Ehrensache. Schließlich war auf einer riesigen Landkarte unter Dutzenden von Partnerstädten auch mein heimatliches Wladimir zu erkennen.
Der Besuch von Wladimirs Oberbürgermeister Sergej Sacharow in Jena, sein Treffen mit Conny Bartlau und mir als einem Teilnehmer am Europäischen Freiwilligenprogramm vermittelte mir die interessante Erfahrung, wie man internationale Unterredungen führt und gleichzeitig als Dolmetscher fungiert. Später durfte ich dann auch noch Jenas Bürgermeister, Frank Schenker, auf seiner Reise nach Wladimir begleiten und für ihn übersetzen. Die Teilnahme an solchen Begegnungen und Gesprächen haben schon immer mein Interesse geweckt. Recht anregend war dabei für mich, diese Erfahrung mit verschiedenen interessanten Begebenheiten zu vergleichen, wie in dem Buch “Statist auf diplomatischer Bühne” von Prof. Paul Schmidt dargestellt, der im Außenministerium des Dritten Reiches arbeitete. Das Interesse an der Erfahrung dieses Dolmetschers bewegte mich nicht nur, sein Buch zu lesen, sondern sogar eine Seite auf Wikipedia über ihn ins Russische zu übersetzen. Und so überzeugte ich mich bei der Lektüre seines Buches und anhand seines Beispiels ein weiteres Mal davon: Je mehr Fremdsprachen man beherrscht, desto reicher die eigene Innenwelt, desto besser in der Lage, den Aufbau der Welt zu begreifen, desto stärker das Streben nach Harmonie. Schade, dass er immer nur “Statist” blieb, obwohl er, wie er in dem Buch auszudrücken versucht, durchaus seinen Beitrag zur Erreichung des Friedens in der Welt geleistet haben will. Ich hoffe, ich selber schaffe es, kein "Statist" zu bleiben.
Am meisten freilich begeisterte mich das Freiwilligenseminar in Weimar, in der Europäischen Jugendbegegnungsstätte. Da kamen die zwanzig besten jungen Freiwilligen aus ganz Europa und den Nachbarländern zusammen. Nie zuvor hatte ich eine solche Menge derart interessanter und so unterschiedlicher Leute an einem Ort unter solchen Umständen getroffen. Nie zuvor hatte ich so viel in so kurzer Zeit in einer kleinen, aber internationalen Gruppe von Menschen erlebt, und dergleichen werde ich wohl auch nie mehr mitmachen können: Spiele zum Kennenlernen und Kommunizieren, improvisiertes Theater, Diskussion schwierigster politischer Fragen, ein Augenzeugenbericht über die schreckliche Lage in Palästina, ein Besuch von der Gedenkstätte KZ Buchenwald, Frisbee-Spielen auf dem Rasen im historischen Zentrum von Weimar, der Geburtstag von Magda aus Polen, das russische Lied von Krokodil Gena auf Deutsch “Wenn die Fußgänger flitzen / tapsend über die Pfützen” am nächtlichen Lagerfeuer, Diskotheken mit Tanz zu Musik aus aller Herren Länder, der Mischmasch aller europäischen Sprachen tagtäglich, das dauernde Übersetzen ins Deutsche, Englische, Französische, Spanische, Ungarische, Russische…
Ich werde diese Momente und diese Menschen, mit denen ich zusammenlebte, nie vergessen. Diese gerade einmal zehn Tage haben viele von uns unwahrscheinlich zusammengeschweißt. Wir treffen uns immer noch. Viele sind in Berlin wohnen geblieben, andere sind wieder zurückgekehrt, überallhin in Europa. Und ihre Türen stehen mir immer offen! Man wird mich immer wie den eigenen Bruder aufnehmen und ein Plätzchen zum Übernachten finden. Offene Türen, Wärme und Behaglichkeit überall und für alle, zumindest in Europa. Gegenseitiges Verstehen und Freundschaft, Offenheit und Hilfsbereitschaft. Dafür lohnt es zu leben, darauf lohnt es, seine Kräfte und Zeit zu verwenden. Zeit, um Brücken zu bauen und Türen zu öffnen. Und war das nicht auch das ureigene Ziel dieses ganzen Freiwilligenprogramms?..
Ein ganzes Jahr verging so. Noch nie zuvor hatte ich so hautnah wie im Verlauf dieses Jahres verspürt, wie groß und zugleich klein und fragil unsere Welt doch ist. In diesem Jahr habe ich viel begriffen, ich habe eine Menge Sachen erlebt, war an sehr interessanten Orten und in den unterschiedlichsten Situationen zugegen.
Ich bin all denen dankbar, die in dieser ganzen Zeit an meiner Seite standen.
Ich denke, die Erinnerungen an diese herrliche Zeit und die Dankbarkeit gegenüber all diesen Menschen könnten ein ganzes Buch füllen. Dabei war es nur ein einziges Jahr, ein Europäisches Freiwilligenjahr. Dieses Buch könnte übrigens eine Fortsetzung haben. Schließlich bin ich ja noch immer hier in Deutschland. Ich habe alle meine Unterlagen zusammengetragen und mich an der Universität immatrikuliert. Aber das ist dann schon wieder eine andere Geschichte, eine nicht weniger interessante, aber eben eine ganz andere.