Wie aus Fremden Freunde werden
Für mich war Europäische Solidarität lange ein Wortkonstrukt, eine leere Hülle ohne Bedeutung. Jetzt ist es so viel mehr. Ein Gefühl der Verbundenheit, das mich überkommt, wenn ich an meine neuen Freunde aus ganz Europa denke.
Als ich mich dem Gästehaus mitten im Nirgendwo nähere, bin ich vor Angst und Aufregung ganz zittrig. Drei Wochen nach Beginn meines Freiwilligendienstes im kleinen Lettland steht nämlich bereits eines der Ereignisse an, das mir als Highlight versprochen wurden: das On-Arrival-Training und damit das Zusammentreffen mit anderen Freiwilligen aus ganz Europa. Wir sind 16 Menschen, die außer dem gleichzeitigen Aufenthalt in Lettland erstmal nicht viel gemeinsam zu haben scheinen. Von den Meisten trennen mich 4-10 Jahre Lebenserfahrung, ein abgeschlossenes Studium und unsere Herkunftsländer tausende Kilometer. Bei der Vorstellungsrunde teilen viele, was ihr Beruf ist oder was sie studiert haben – da ich gerade einmal die Schule beendet habe, fühle ich mich plötzlich ganz jung und unerfahren. Wie soll uns denn etwas verbinden? Was habe ich schon gemeinsam mit all diesen Erwachsenen?
Doch dieser Gedanke verflüchtigt sich schnell. Wir sehen einander ohne landesspezifische Stereotypen. Wir hören einander zu ohne voreilige Schlüsse zu ziehen. Wir respektieren einander ohne Vorbehalte. Wir schaffen ein Miteinander.
Wenn ich das Wort Solidarität höre, denke ich an den Moment zurück, in dem mir all das klar wurde. Der Moment, in dem ich mich in einem Raum mit 15 zuvor fremden Menschen, geborgen und wertgeschätzt fühlte. Nach wie vor staune ich darüber wie unterschiedlich wir sind: Die 28-jährige Ukrainerin, die die letzten Jahre in Israel gelebt hat und sogar in der Armee gedient hat; die Marketingstudentin aus Tiflis, die als Nebenjob georgische Untertitel schreibt; die aufgeweckte Türkin, die sich für Kindergeburtstage als Clown kostümiert – ich habe noch nie in meinem Leben so interessante und vielfältige Leute kennengelernt! Und doch verbindet Europa uns alle. Der Wunsch, ein Jahr in einem fremden Land zu leben, neue Dinge auszuprobieren und an Herausforderungen zu wachsen – und die Dankbarkeit gegenüber der EU und Erasmus +, dass uns das ermöglicht wird.
Unser erstes Zusammentreffen ist jetzt drei Monate her – mittlerweile verbinden uns nicht nur der gleichzeitige Freiwilligendienst in Lettland sowie ähnliche Sorgen und Ängste, sondern gemeinsame Erlebnisse, Reisen und lange Gespräche. Auf den Punkt gebracht: Aus der Solidarität ist Freundschaft geworden.