Wenn zwei sich streiten
Es herrscht eine historische Vorbelastung im Bereich der Namensgebung. Wer verstehen will, wie es zu dieser ewigen Diskussion über Formalitäten wie den Landesnamen kommen konnte, der muss da ansetzen, wo Vorboten dieser Entwicklung das erste Mal in Erscheinung traten.
„Die Geschichte lehrt andauernd. Sie findet nur keine Schüler.“
Ingeborg Bachmann
Die Probleme bei der Namensgebung begannen tatsächlich viel früher als 1993. Im Grunde muss man beim Königreich Böhmen beginnen. Dieses entstand im Jahre 1182 als Nachfolger des Herzogtums Böhmen. Bis 1806 gehörte es zum Heiligen Römischen Reich. 1804 wurde es zudem Kronland Österreichs, das die Habsburger zusammen mit dem Kaiserreich Österreich und dem Königreich Ungarn regierten. Aus dieser Zeit stammt auch die heute in Ungarn noch verbreitete Ansicht, dass die Slowakei zu Ungarn gehöre. Nach der Auflösung Österreich-Ungarns am 31. Oktober 1918 formierte sich ein neuer Staat: die Erste Tschechoslowakische Republik. Dadurch wurden mehrere Regionen und Völker zusammengefasst, die nicht unbedingt eine historische Verbindung hatten. Das Problem waren jedoch nicht zwangsläufig Mähren und Schlesien, sondern der Status der Slowakei in diesem Bund. Die Slowaken waren der Meinung, nicht ausreichend repräsentiert zu werden und nur der verlängerte Arm der Tschechen durch die tschechoslowakische Hauptstadt Prag zu sein. Nachdem Böhmen nicht länger als eigenes Land existierte, war nun vorerst entscheidend, wie man den neu entstandenen Staat nennt. Der Disput begann mit der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik und endete erst mit dem Zerfall der nächsten. Doch bereits hier muss man vorsichtig sein, denn die Schreibweise änderte sich mehrmals im Laufe der Zeit. Während des Zweiten Weltkriegs wurde der Staat kurzerhand vollkommen umstrukturiert. Der Einfachheit halber betrachten wir daher die Tschechoslowakischen Republiken eins und zwei als Gesamteinheit.
Der Name des Landes trug maßgeblich zur Entstehung politischen Unmuts bei, da er, abhängig von der Schreibweise, unterschiedliche Rückschlüsse auf das Verhältnis zwischen der Slowakei und Tschechien zuließ. Der Konflikt wurde von slowakischer und tschechischer Seite damals als „Gedankenstrich-Krieg“ bezeichnet. Das wäre zum Lachen, läge Diskussionen wie dieser nicht die Spaltung der Menschen und der Tschechoslowakei zugrunde. Der Gedankenstrich-Krieg (tschechisch: pomlčková válka) war jedenfalls eine Auseinandersetzung, die sich um den Anteil Tschechiens am Landesnamen drehte. Im Jahre 1989, nach Untergang der kommunistischen Führung und der Wahl des Präsidenten Václav Havel, musste ein neuer Name her, da der alte noch den Zusatz „socialistická“ beinhaltete, was nicht mehr erwünscht war. Havel schlug vor, diesen Zusatz einfach zu streichen. Aus „Československá socialistická republika“ wäre also „Československá republika“ geworden. Damit war die Slowakei jedoch nicht einverstanden und wollte die Zweistaatlichkeit hervorheben, indem ein Bindestrich zwischen die jeweils landesbezeichnenden Wortteile gesetzt wird. Betonung auf „Bindestrich“, denn nur dieser war vorgesehen. Nicht etwa ein Gedankenstrich, wie es der Name des Konflikts nahelegt. Es besteht ein Unterschied zwischen einem Binde- und einem Gedankenstrich. Das eben war ein Bindestrich, während – passen Sie auf – das ein Gedankenstrich war. Oft genug trifft man in Texten auf falsch verwendete Bindestriche, die die grammatikalische Bedeutung eines Gedankenstrichs übernehmen. In der Regel weiß man, wie es gemeint war, doch es ist trotzdem typografisch falsch. Möchte man es richtig machen, setzt man das in der Fachsprache Halbgeviertstrich genannte Interpunktionszeichen ein.
Am Ende ging es um Millimeter, die den Bindestrich vom Gedankenstrich trennen. Die tschechische Bevölkerung nahm nämlich ungerechtfertigterweise an, es handele sich bei dem Bindestrich um einen Gedankenstrich. Dieser hätte eine trennende Wirkung. Es sei eine „Beleidigung der tschechischen Nation“, hieß es von tschechischen Abgeordneten. Die Fronten verhärteten sich zunehmend. Es gab sogar einen Hungerstreik für den Bindestrich. Betrachtet man die Kurznamen der Tschechoslowakei, wird ein amüsantes Muster sichtbar, das allegorisch für den gesamten Disput zwischen Tschechien und der Slowakei innerhalb der Tschechoslowakei steht. Hier sehen Sie die offiziellen Kurzformen des Landesnamen zwischen 1918 und 1990:
1918–1920 Česko-Slovensko
1920–1938 Československo
1938–1939 Česko-Slovensko
1945–1990 Československo
Mit dem Verfassungsgesetz 81/1990 wurde am 29. März 1990 der Langname „Československá federativní republika“ in Tschechien und „Česko-slovenská federatívna republika“ in der Slowakei übernommen. Dieser Name war erstaunlicherweise nicht von Dauer, weshalb noch weniger als einen Monat später, am 23. April 1990, das Verfassungsgesetz 101/1990 in Kraft trat, das die neuen Langnamen „Česká a Slovenská Federativní Republika“ in Tschechien und „Česká a Slovenská Federatívna Republika“ in der Slowakei einführte. Laut der tschechischen und slowakischen Rechtschreibung wird bei einem mehrgliedrigen Eigennamen lediglich der erste Buchstabe großgeschrieben. Jedoch wollten die Slowaken aus Gründen der Gleichberechtigung unbedingt ein großes S. Diese Forderung wurde von den tschechischen Abgeordneten nicht unterstützt. Die “Lösung“ war dann eben genannte „Česká a Slovenská Federativní Republika“. Das war orthographisch nicht korrekt. Es hätte ein kleines „s“, „f“ und „r“ sein müssen. Man entschied sich zu dieser Einigung, da auf diese Weise das S für „Slovenská“ groß geschrieben werden konnte, ohne sich dabei zu stark von den folgenden zwei Wörtern abzuheben. Falsch war es sowieso schon, da meinte man scheinbar, dass es nun auch nicht mehr darauf ankommt, wie falsch. Die amtliche Rechtschreibung der slowakischen Sprache listet diese Bezeichnung jedenfalls noch heute ausdrücklich als Sonderfall. Dieses Ereignis zeigt in ausgezeichneter Weise, wie Sprache zum Politikum werden kann.
Schwung in die ganze Sache brachten ab 1990 die Kurzformen der Tschechoslowakei. Diese waren nämlich nicht mehr einheitlich. Die Tschechen sagten „Československo“ (Tschechoslowakei), die Slowaken „Česko-Slovensko“ (Tschecho-Slowakei). Darüber hinaus erweiterte die Slowakei die Gültigkeit dieser Schreibweise rückwirkend per Gesetz auf den Zeitraum der gesamten Existenz des Staatenbundes seit 1918, obwohl man der Zusammenschreibung vorher zugestimmt hatte. Dieses letzte Aufbegehren zeigte, dass die ganze Zeit über grundlegende Meinungsverschiedenheiten bestanden hatten. Ungefähr drei Jahre lang hielt es danach noch, dann trennten sich die Wege Tschechiens und der Slowakei für ein (vermutlich) letztes Mal.
Damit hatte der Streit ein Ende. Gelöst wurde er nicht, er wurde lediglich hinfällig, da es fortan nur noch die „Česká republika“ und die „Slovenská republika“ oder, wie man auf Slowakisch durchaus auch sagen kann: „Slovensko“, gab. Es ging um Gleichberechtigung und Macht. Die Slowakei war damals für die Tschechoslowakei, was Mähren und Schlesien heute für Tschechien sind. Sie wollen nicht mehr dieses Schattendasein neben dem übergroßen Böhmen führen.
Letzten Endes ist es eine Entscheidung zwischen Praktikabilität und Überzeugung. Der Landesname ist ein Wort, das jeder Mensch andauernd gebraucht. Der Mensch ist im Grunde auch kein Wesen, das nach unnötiger Verkomplizierung strebt. Böhmen sitzt unleugbar am längeren Hebel – hat Prag und stellt den Präsidenten sowie im gegenwärtigen Kabinett unter anderem den Verteidigungsminister, Innenminister, Finanzminister und Justizminister. Die Vorsicht der Mährer und Schlesier ist eine Folge der Furcht davor, dass der Konflikt genauso enden wird wie in der Tschechoslowakei, wo ein Bindestrich trennte, statt zu verbinden und die Diskussion über einen Buchstaben erst die Grammatikregeln zweier Sprachen aushebelte, um schlussendlich zum endgültigen Exitus des Projekts Tschechoslowakei zu führen. Es ist nicht das Wort, das am Ende zur Spaltung führte, sondern der Streit darüber.