Weichen
Weichen stellen und dann irgendwann selbst weichen
Als ich im Supermarkt den Proviant für den letzten Tag in Tschechien einkaufte, tönte aus den Lautsprechern „Happy“ von Pharrell Williams. Es ließ mich grübeln, denn ich war weder glücklich noch betrübt. Wie in jeder Begegnung Freude liegt, liegt in jedem Abschied auch ein wenig Trübsinn. Es war ein regelrechtes Mischmasch an Gefühlen – eigentlich wusste man gar nicht, was man gerade denken sollte.
Die letzten Tage vergingen schneller als ich erwartet hatte. Es blieb kaum mehr Zeit, lang überfällige Dinge zu erledigen. Pilze sammeln, Städte besichtigen, diesen Text hier schreiben – all das ließ sich in der Zeit nicht mehr realisieren. So tat man eben das Nötigste. Am Bahnhof empfingen wir die neuen Freiwilligen. Bald beantwortete ich die gleichen Fragen, die ich vor zwölf Monaten selbst gestellt hatte. „Wie lautet das WLAN-Passwort?“, „Wo ist der nächstgelegene Supermarkt?“ und „Wie geht's zum Marktplatz?“
Kaum hatte man all diese Fragen beantwortet, es sich auf dem provisorischen Beton-Bett bequem gemacht, schon fand man sich auf dem Heimweg wieder, war nach kurzer Zeit schon auf der deutschen Autobahn, wo im Regen Audis, BMWs und Porsches darum konkurrierten, wer dem anderen am dichtesten auffahren kann.
Ehe man sich's versah, war man wieder daheim angekommen. Zuhause – das ist, wenn die Socken gebügelt sind, die Badarmaturen aus Edelstahl sind und die Toilettendeckelabsenkautomatik nicht mehr „Laura“, sondern SoftClose® heißt.
Es war eigenartig, wieder heimzukehren. Anfangs fühlte ich mich noch wie ein Fremdkörper, dabei war mir diese Umgebung ja besser vertraut als jede andere. Alle Leute sprachen plötzlich wieder diese Sprache, die ich über Monate kaum gesprochen hatte. Allerdings verstand ich sie auch uneingeschränkt. Fortan bekam ich in Fußgängerzonen wieder obsolete Anekdoten vorbeilaufender Passanten erzählt. In Tschechien war das noch ganz anders. Wenn man da nicht genau hinhörte, konnte man ungestört nach Hause laufen.
Mit der Sprache war es so eine Sache. Nun ist das Jahr vorbei, und es lässt sich nichts mehr auf- oder nachholen. Ich kenne die tschechische Bezeichnung für die Gemeine Schafgarbe, kann mich aber immer noch nicht kohärent ausdrücken. Ein Fragment hier, eines dort, so zimmert man sich eben seine Sätze zusammen. Wohl ist das der Tatsache geschuldet, dass Wörter wie Řebříček [ˈr̝ɛbr̝̊iːʧɛk] einfach mehr hermachen. Mein abschließender Sprachtest hat bei der Rubrik „Vokabular“ jedenfalls ein undankbares A1- ergeben. Weder botanische noch kulinarische Vokabeln konnten mir bei diesem Test auch wirklich weiterhelfen. Vepřový řízek, cibulové kroužky und hovězí guláš – das war meine Welt. Der Test fragte leider keine dieser überlebensnotwendigen Vokabeln ab, was möglicherweise auch das Problem war. Wobei es einem die tschechischen Supermärkte auch nicht gerade leicht machten. Bei den Milcherzeugnissen war es schwer zu differenzieren, denn alles war ungefähr gleich verpackt und hatte ähnlich unverständliche Etiketten. Was war nun Crème fraîche, was Schmand? Reicht ja schon, dass ich mit diesen Begrifflichkeiten bereits auf Deutsch kaum etwas anzufangen weiß. Wenn man doch wenigstens nach Rezept hätte kochen können! Nun, die ein oder andere kulinarische Überraschung zählte eben dazu. Aber das war ja spätestens nach unserem Fauxpas bei der Béchamelsauce klar.
Eine große Bürde fiel mit der sprachlichen Umstellung jedenfalls von mir ab: ich musste mich nicht mehr auf jede Sprechsituation vorbereiten. In Deutschland plappere ich einfach drauf los, ohne dabei sonderlich viel zu denken. In Tschechien war das dagegen nicht so einfach. Wenn ich, sagen wir, auf dem Sekretariat – wo nur Tschechisch gesprochen wurde – um einen Stapel Druckerpapier bitten wollte, begann die Vorbereitung im Büro, wo ich mir einprägte, was ich sagen würde. Mit dem Drehen des Schlüssels begann dann die Phase ewiger Repetition, bis es einigermaßen saß – all das für eine Frage. Kritisch wurde es, wenn Nachfragen kamen, die ich weder verstand noch beantworten konnte. Mein Papier habe ich zwar stets bekommen, aber besonders umgänglich konnte ich dabei nie gewirkt haben.
Wenngleich es mich erstaunte, wie selten gegen Ende meines Freiwilligendienstes Nachfragen zu meiner Person kamen. Ich mag zwar ein komischer Kauz mit miserabler Grammatik gewesen sein, doch immerhin noch ein Tscheche. Ganz anders noch zu Beginn des EVS, als ich wahlweise für einen Polen, Briten oder Amerikaner gehalten wurde. Als ich mich in der letzten Woche meines Freiwilligendienstes beim Sportstudio abmeldete, war die Frau am Empfang erstaunt, dass ich Deutscher bin. Von da an war sie auch erheblich interessierter als noch zuvor, als ich auf mein keckes „Na shledanou!“ immer nur ein müdes „Nashle …“ als Antwort bekam. Ich meine, jemand wie ich, dessen Wortschatz im Sportstudio beim Kommen und Gehen während des ganzen Jahres einstellig geblieben sein dürfte, kann doch wohl nur schwer als gewöhnlicher Tscheche durchgehen. Doch wie es schien, war das der Fall. Manchmal kaufte ich mir an der Theke eine Flasche Wasser – ich bekam qua meines Vertrages einen großzügigen Rabatt darauf. Meinem Gegenüber mitzuteilen, welche Größe, Marke und Sprudeligkeit ich wollte, glich dabei meist einer Herkulesaufgabe:
„A voda, prosím.“ (Und noch eine Flasche Wasser bitte.)
*Greift zur kleinen Flasche* „Velký nebo malý?“ (Groß oder klein?)
„Velké, prosím.“ (Groß bitte.)
*Greift zur grünen Flasche mit Kohlensäure* „S kyselinou uhličitou?“ (Mit Kohlensäure?)
„Ne, ne, ne, bez. Modrá, prosím.“ (Nein, ohne. Die blaue bitte.)
*Nimmt sichtbar genervt die blaue 1,5-Liter-Flasche aus dem Kühlschrank* „Prosím.“ (Bitteschön.)
„Děkuju.“ (Danke.)
Abgesehen von solchen Vorkommnissen, die ja nur daher rührten, dass meine Gesprächspartner außerhalb der Schule und meiner Organisation nicht wussten, dass ich Ausländer bin, kam ich als Nicht-Tscheche in einer Stadt aus Nur-Tschechen erstaunlich gut zurecht. Ich mag ein verschrobener, wortkarger “Tscheche“ gewesen sein – aber ein Tscheche. Dieses Sich-Einfügen in die Gesellschaft empfand ich als überaus interessante Erfahrung, denn ob man nun nach Italien, Frankreich oder Tschechien reist: Teil der Gesellschaft wird man währenddessen nie. Ein Jahr ist lang, aber das braucht es auch zur Assimilation. Es bedarf einem Grundwissen über die tschechische Sprache, Kultur und die hiesigen Gepflogenheiten. Wenn man dieses Wissen hingegen mal hat, so ist der Weg in die Gesellschaft für einen geebnet, und es liegt nur noch an einem selbst, ihn zu gehen.
Wieder daheim in Deutschland merkte man, wie fürstlich man in manchen Belangen in Tschechien doch leben konnte. Man hatte nicht viel Geld, doch das brauchte man auch nicht. Wenn ich dagegen hierzulande schaue, was ein Kaffee im Restaurant kostet … Dafür hätte ich in Tschechien zuweilen eine ganze Mahlzeit bekommen. Aber auch bei Dingen, die uns zur Verfügung gestellt wurden, setzte sich diese Fürstlichkeit fort. So blieb zum Beispiel die spanferkelgroße Gefriertruhe im Gedächtnis. Darin hätte man nicht nur eine Pizza aufbewahren können, sondern gleich den ganzen Pizzabäcker.
Außerdem gab es Pfand nur auf Glasflaschen. Für jemanden ohne Auto war das eine große Erleichterung. Mit der Zeit wurde man jedoch nachlässig. In den ersten Wochen zurück in Deutschland warf ich aus Versehen des Öfteren Pfandflaschen in den Müll. Wären meine Mitmenschen nicht gewesen, wäre ich dieses Laster wohl auch kaum losgeworden. „Was, du schmeißt Pfandflaschen weg? Wie kannst du nur!?“ Manche deutschen Sitten fingen langsam an zu nerven. Plötzlich hatte die Einkaufswoche nicht mehr 7 Tage, sondern 5,5. In Tschechien galt mein Blick der Uhr, aber sonst? Die Läden waren ja sowieso immer offen. Bevor jetzt an die Arbeitnehmerrechte erinnert wird: Ich habe auch die andere Seite der Medaille gesehen. An Sonntagen arbeiten? Na klar, ist doch ein ganz normaler Tag in Tschechien. Bis dann Montag, Dienstag und Mittwoch kamen, die einen wünschen ließen, man hätte die Arbeit am Sonntag sein lassen. Aber auch das überlebt man. So erwuchs daraus eine gewisse Zwiegespaltenheit. Nichtsdestotrotz war es enorm praktisch, jeden Tag von morgens bis abends – bei Kaufland sogar bis 22 Uhr – einkaufen gehen zu können, statt eben – wie in Deutschland – unter der Woche um 17:00 Uhr, wenn auf magische Art und Weise alle Arbeitnehmer beschließen, ihren Wocheneinkauf zu tätigen und dabei die zwei offenen von fünf vorhandenen Kassen verstopfen, sodass es sich bis zum Waschpulver staut.
Es war einfach schön, mal etwas Anderes gesehen zu haben – und sei es um dessen Andersheit willen. Wenn Leute erzählen, sie hätten schon hier und da auf der Welt gelebt, dann klingt das für fremde Ohren immer so kosmopolitisch, so gewollt-weltoffen, dabei ist es gar kein großer Akt. Ich habe es ebenfalls gemacht, bin aber weder erleuchtet worden noch rückkehrscheu. Ich bin lediglich zu der Erkenntnis gekommen, dass es sich fast überall auf dieser Welt leben lässt – und das sogar ziemlich gut. Alles, was dazugehört, ist ein wenig Mut und Nonchalance.