Vorweihnachtszeit fernab von Zuhaus
Die Vorweihnachtszeit in Moldawien ist ein besonderes Ereignis und Lockenjule freut sich, dabei zu sein. Noch mehr freut sie sich aber, zu Weihnachten ihre Familie und Freunde wiederzusehen.
Noch nie habe ich mich so auf Weihnachten gefreut wie dieses Jahr. Noch nie habe ich schon im Oktober so viel über Weihnachten nachgedacht wie hier. Was sich sonst in den deutschen Supermärkten ab September abspielt (nämlich der Verkauf erster Weihnachtswaren) spielte sich dieses Jahr in meinem Kopf ab. Und in Rosis. Die innige Vorfreude rührt natürlich vor allem daher, dass wir an Weihnachten für zwei Wochen nach Haus fliegen und endlich Familien und Freunde wieder sehen können. Für Rosi und mich hat die Floskel "Weihnachten - das Fest der Familie" eine völlig neue, äußerst große Bedeutung bekommen. Wenn man seine Familie und Freunde lang nicht mehr gesehen hat, denkt man insbesondere in der Weihnachtszeit an sie und möchte sie vor dem Jahresende noch mal sehen. Schon seit Ende November hängt bei mir der Zeitplan, wann ich wen treffe und was mache in meinen zwei Wochen "Heimaturlaub".
Genauso eine Liste mit Dingen, die ich unbedingt in Deutschland besorgen muss. Und natürlich eine Liste mit den Leuten, die an Weihnachten von mir mit moldawischen Einzigartigkeiten beschenkt werden sollen. Womit wir auch schon beim zweiten Grund für die übersprudelnde Vorfreude wären: All die Dinge, die man traditionell in der Vorweihnachtszeit und auch ausschließlich in diesen Tagen tut. Die meisten dieser Traditionen lassen sich auch wunderbar im Ausland ausführen, ganz gleich, wo man ist. So zum Beispiel Geschenke für die Lieben basteln oder besorgen; eine Aufgabe, die jedes Jahr wieder nur zu gern und voller Hingabe erledige. Dieses Jahr umso mehr, da sich aufgrund geringfügiger Kommunikation keiner etwas von mir wünschen konnte; ich also vollkommen freie Hand bei der Geschenkauswahl habe.
Ein weiterer wichtiger Akt ist natürlich das Plätzchen backen. Das Tolle dabei: Die wenigen hiesigen Deutschen finden sich zur gemeinsamen Weihnachtsbäckerei zusammen und man lernt immer neue Rezepte kennen; zudem Weihnachtskekse aus Belgien und Holland und vielen anderen Ecken Europas, aus denen Freiwillige hier sind und uns ihr weihnachtliches Gebäck zeigen. Dazu kommen natürlich die Weihnachtsmusik und das Weihnachtssingen. Ich hatte schon in Deutschland perspektivisch Weihnachtsmusik auf meinen Laptop gespielt, die wir auch schon unzählige Male gehört haben. Auch haben wir uns englische Weihnachtslieder ausgedruckt und in internationaler Gemeinschaft versucht, diese zu singen. Nicht schön, aber laut und voller Inbrunst. Wer hätte gedacht, dass in der vierten Strophe von Jingle Bells der Satz "Wenn es kalt wird und das Jahr zu Ende geht, nimm alle Mädchen, die du auf dem Weg triffst" vorkommt? Und wer hätte gedacht, in wie vielen Sprachen es "O Tannenbaum" gibt?
Man erkennt schon, es ist wirklich ein großer Vorteil in einem so kleinen, nach europäischem Standard eher armen Land seinen Freiwilligendienst zu machen: Alle Freiwilligen aus Europa kommen über eine Organisation und finden sich als eine große Gruppe zusammen. So lernt man neben den landeseigenen Gebräuchen auch noch viele andere kennen. So zum Beispiel wird in Holland und Belgien auch Nikolaus gefeiert, allerdings vom vierten zum fünften Dezember und neben kleinen Geschenkchen im Schuh mit einer Möhre für das Pferd von Nikolaus‘ Schlitten. Weihnachtskalender hingegen kennt man fast nur in Deutschland, genauso wie den Adventskranz. Überhaupt scheint Deutschland außergewöhnlich viele Vorweihnachtstraditionen zu haben. Einige davon kenne ich erst seit diesem Jahr, weil andere deutsche Freiwillige sie begangen und mir erklärt haben. Am vierten Dezember ist zum Beispiel Barbaratag: Man schneidet an diesem Tag einen Zweig von einem Obstbaum ab und stellt ihn im Haus ins Wasser; dieser Barbarazweig blüht dann am Heiligen Abend. Nächstes Jahr werde ich das auch mal probieren.
Nun aber zur moldawischen Vorweihnachtszeit. Es sei vorweg gesagt, dass es für mich als Deutsche, kurz nach der Wende geboren, ein glücklicher Zufall ist, gerade jetzt hier zu sein. Das Land befindet sich im Umbruch. Seit dem Sturz der kommunistischen Regierung im März vollzieht sich in Moldawien ein immer schnellerer Wandel. Natürlich nicht ausschließlich in positiver Weise. So sieht man an Chisinaus Hauptstraße immer mehr teure Boutiquen von Hugo Boss und Konsorten; wo sich wieder jeder Mensch fragt, wer in diesem Land das Geld für einen Einkauf dort hat oder warum nur das Zentrum immer zum Bonzenviertel umgewandelt werden muss.
Aber daran sieht man, wie sich der Wandel des Landes ganz nach westeuropäischem Zentrumsmodell vollzieht: Erst die Hauptstadt (und darin erst die Reichen noch reicher machen und den Rest dann nach Möglichkeit nachziehen) und dann die anderen Städte und dann erst die Dörfer etc. In denen es hier manchmal weder Strom noch fließend Wasser gibt. Dabei wäre es gerade in Moldawien, das über eine so arbeitswillige Mittelschicht verfügt, so erfolgsversprechend gewesen, die Gesellschaft aus den unteren Schichten heraus zu stärken. Meiner Ansicht nach.
Aber gewählt wurde der einfachste Weg, bei dem sich am schnellsten rote Zahlen ergeben. So scheint der Kapitalismus zu funktionieren. Dies fällt mir gerade jetzt so auf, da die Weihnachtszeit auch hier mehr zur Konsumzeit zu werden scheint. Zwar, und dafür küsse ich dem Land gedanklich die Füße, fängt der Verkauf von Weihnachtsartikeln hier wirklich erst allmählich Ende November an und geht ab dem ersten Dezember richtig los (wenn bei uns die ersten Ostersachen reinkommen), aber WAS dann verkauft wird… hat mit Tradition wenig zu tun. Weihnachtsstolle aus Deutschland, italienischer Weihnachtskuchen,… ich erzählte ja bereits davon. Man merkt, Moldawien will in Richtung West. Will weg von Russland und weltoffener werden. Auch das hat gute und schlechte Seiten.
Hier ein Beispiel: Am ersten Dezember wurde auf dem zentralen Platz der Stadt ein riesiger Weihnachtsbaum aufgestellt, nebst Unmengen von Lichterdekorationen, auch auf der Hauptstraße, in allen Farben und Blinkvariationen. An manchen Stellen für meinen Geschmack etwas überladen, ansonsten aber sehr hübsch. Und für viele Einheimische ein großer Schritt. Am ersten Dezember feierten ca. 200 Moldauer mit Fahnen die erstmalig schon für den ersten Dezember genehmigte Aufstellung des Baumes, begleitet vom freudigen Gehupe vorbeifahrender Moldauer mit gleicher Ansicht.
Im letzten Jahr nämlich wurde der Baum am selben Tag aufgestellt, über Nacht aber von der Regierung wieder abgebaut, sodass bis zum 5. Dezember ein lautstarker Kampf um den Weihnachtsbaum ausbrach, bis die Regierung dann schließlich nachgab. Denn die Vorweihnachtszeit in Moldawien sollte nicht am selben Tag losgehen wie die im westlich orientierten Europa. In diesem Jahr wurde es also erstmals erlaubt, und die pro-westlichen bzw. pro-rumänischen Moldauer feierten dies gebührlich auf der Straße. Zudem feierten sie die Bekanntgabe, dass dieses Jahr zum ersten Mal der 25. Und 26. Dezember als offizieller Feiertag gehandhabt werde und die Menschen an diesem Tag nicht arbeiten müssen, so wie in den Jahren zuvor. Auch wenn das Weihnachtsfest an diesen Tagen hier schon seit Jahren verbreitet ist.
Überhaupt ist das Weihnachtsfest an sich hier sehr repräsentativ für Moldawiens Geschichte und Entwicklung: Am 25. Dezember wird das so genannte europäische Weihnachten gefeiert, was mehr in weihnachtliche Gaudi ausartet als in ein stilles Fest. Zum zweiten Mal Weihnachten feiert man an Silvester, wenn nach sowjetischer Sitte Väterchen Frost kommt. Dann wird auch gleich noch rauschend das neue Jahr zelebriert. Ein drittes Mal (und hier als offizielles Weihnachten gehandhabt) feiert man das orthodoxe Weihnachten am sechsten und siebten Januar; mit ausgiebigem Kirchgang, viel zu essen und bunten Eiern als Zeichen für Jesu Geburt, wie es sie bei uns zu Ostern gibt. Der Vorteil für uns deutsche Freiwillige: Wir kommen nach Silvester wieder her und feiern gleich noch mal Weihnachten… Juppheidi!
Eines muss ich noch berichten, was eigentlich der Anlass dieses Textes ist: Am letzten Samstag war in den hiesigen Messehallen (also in einer von dreien) internationaler Weihnachtsmarkt. Man mag es kaum glauben, in der Hauptstadt dieses anscheinend so hinterwäldlerischen kleinen Landes gibt es mehr kostenlose internationale Veranstaltungen als in Berlin! Da die Botschaften hier alle klein und auf engstem Raum sind und Moldawien auf bestem Wege zum EU-Beitritt ist (jaaa, auch wenn das noch dauern wird) tut man hier viel für das Nahebringen internationaler Kultur.
Auf diesem Weihnachtsmarkt also hatte jede Botschaft bzw. jedes Konsulat einen eigenen Stand, wo traditionelle Weihnachts-Gebäcke, Gerichte und Getränke aus dem jeweiligen Land dargeboten wurden. Manmanman, haben wir uns vollgestopft… aber wann hat man schon mal wieder die Gelegenheit, selbst gemachte Weihnachtsleckereien aus aller Welt zu probieren? Dazu noch Bücher, Töpferarbeiten und natürlich Weihnachtsdekorationen. Und eine Bühne, wo sich örtliche Tanz- und Sängergruppen präsentierten.
Am Ende des Tages lernten wir am deutschen Bierstand (typisch, immer schön das Klischee bedienen) Angestellte der deutschen Botschaft kennen. Diese haben uns dann zum Weihnachtskonzert der deutschen Botschaft eingeladen, welches dann gestern (Mittwoch, den 9. Dezember) stattfindet. Dieses ist jetzt der eigentliche Anlass für den Text. Für ausgewähltes, geladenes Publikum aufgeführt (jahaaa, und Rosi und ich gehörten dazu), genoss ich das bis jetzt einzigartigste und schönste Weihnachtskonzert, das ich je erlebt habe.
In einem der städtischen Opernhäuser (mit riesigen Kronleuchtern, wirklich (!) geschmackvoller barocker Ausgestaltung, eigener riesiger Orgel und zwei Flügeln… Liebe Berliner Opernhäuser, da könnt ihr leider nicht mithalten) saßen wir auf wunderbaren Plätzen. Vor uns sang ein Chor deutsche, englische, lateinische und rumänische Weihnachtslieder ( wobei "O Tannenbaum" dank des rumänischen Akzents klang, als würden Sachsen singen… weswegen Rosi und ich uns arg zusammenreißen mussten, nicht loszulachen). Der Chor an sich war aber große Klasse. Wenn er aus voller Brust die Weihnachtszeit pries sind mir richtig wohlige Schauer über den Rücken gelaufen. Dann spielte eine Kantorin Orgel (auf wirklich beeindruckende Weise) und drei Pianisten brachten die Flügel auf genauso beeindruckende Weise zum Klingen. Ein Konzert, das die Weihnachtsstimmung wahrhaft königlich verbreitet hat. Nachdem der Applaus verklungen war und wir den Saal verließen, schenkte uns der Botschaftsangestellte noch jedem einen Schokoweihnachtsmann. Der erste Schokoweihnachtsmann dieses Jahr! Bei mir hat er fünf Minuten überlebt, dann verschwand er auf Nimmerwiedersehen in meinem weihnachtlichen Genießermund.
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