Von und zu Europa
Auf dem Piata Universtitate in Bukarest steht schon eine Uhr, die zählt rückwärts die Tage bis zum wahrscheinlichen Beitrittstermin Rumäniens zur EU im Jahr 2007. Der Beitritt wird Rumänien gut tun – aber entscheiden müssen die Rumänen selber.
Was man in Bukarest nicht sehen kann, sind Mütter mit Kinderwagen. Also Mütter sieht man schon, bloß die tragen ihre Neugeborenen und Babys meistens einfach auf dem Arm mit sich herum. Sind Kinderwagen so teuer? Sicherlich, was ist hier nicht teuer für die normale Bevölkerung.
Vielleicht aber gibt es auch sonst einfach kein Hindurchkommen im modernen Alltag dieser Stadt, in der alle (ich betone: alle!) Wege zugeparkt sind oder Sandberge sich einfach so in voller Breite auf dem Gehweg auftürmen. In der es viele Treppen, dafür aber keine abgeflachten Bordsteine gibt und schon gar keine Fahrstühlen für Behinderte. In der Rolltreppen seit Jahren stillgelegt sind und manchmal plötzlich Löcher vor einem gähnen, genau da, wo die Treppe aufhört - es wird einfach alles getan, damit Menschen ohne zwei gesunde Beine oder mit größerem Leibesumfang sich kaum fortbewegen können. Dagegen kann ich hier oft ohne Probleme in den an der Kreuzung wartenden Bus einsteigen, obwohl er schon von der Haltestelle abgefahren ist - wenn ich freundlich winke. Oder wenn eine Kreuzung mal wieder hoffnungslos verstopft ist, macht der Fahrer auch einmal eher die Türen auf und lässt aussteigen, wer mag, auch wenn die eigentliche Haltestelle noch nicht erreicht ist.
In Rumänien werden alle Kinderheime aufgelöst, das ist eine der Voraussetzungen zum zukünftigen EU-Beitritt. Aber sind diese Kinder, die nicht das Gluck haben, in Pflegefamilien zu kommen, bei irgendwelchen entfernten Verwandten oder in Wohngruppen immer besser aufgehoben, als in der alten Kinderheimgruppe, nur weil das Vorschrift ist? Jemand hat mir erzählt, dass in den italienischen Bars jetzt kein offener Zucker mehr stehen darf. EU-Verordnung. Hygienevorschriften.
Sind das alles ganz verschiedenen Sachen? Oder geht es bei allem auch um Selbstverantwortung und Selbstbestimmung? Ist es nicht meine Entscheidung, ob ich den vielleicht nicht ganz so hygienischen, dafür aber umweltfreundlicher verpackten Zucker aus der offenen Dose in meinen Kaffee tue? Darf ich nicht selber entscheiden, ob ich das Risiko auf mich nehme, nicht an einer als solche gekennzeichneten Bushaltestelle aus- oder einzusteigen und ist es nicht meine Sache, wenn mich die falsch parkenden Autos stören und ob ich etwas dagegen unternehme oder nicht? Und wie ist das mit den Kindern? Kann man Familie verordnen?
Die EU wächst. Zehn neue Länder sind dieses Jahr dazugekommen. Was bedeutet EU-Erweiterung für die neuen und für die zukünftigen Mitgliedsländer? EU-Standards bald überall? Wer bewegt sich hier auf wen zu? Alle auf die EU oder kommt die EU auch den anderen entgegen? Ich weiß nicht, ob ich Lust hätte, bei einer allzu einseitigen Bewegung mitzumachen.
Rumänien, glaube ich, täten die EU-Erweiterung und die Veränderungen, die sie mit sich bringt, gar nicht so übel. Wenn das Land dann mal beigetreten ist. Oder jetzt schon, noch auf dem Weg dorthin. Dann gäbe es vielleicht ein bisschen weniger Korruption und Bestechung.
Andere finden, Rumänien sei in vielen Teilen ganz anders und unvereinbar mit der EU und solle es auch bleiben. Ich erinnere mich an einen anderen deutschen Freiwilligen, den ich hier kennen gelernt habe, der meinte, die EU bedeute für das Leben auf dem Land das Aus und sei daher für Rumänien eigentlich nicht erstrebenswert; er bedauere diese Entwicklung sehr. Ja - das Landleben, einfach, bäuerlich, romantisch, im Einklang mit dem Kreislauf der Jahreszeiten – das mag für manche sehr schön klingen. Manche, wie wir, aus Deutschland, einer Industrie-Nation. Wenn das mal aber nicht das verkitschte Denken eines solchen industriellen Bürgers ist, der hier etwas wieder zu finden glaubt, was er dereinst verloren hat, in grauer Vorzeit, irgendwann. Romantisch, jeden Tag, jahraus jahrein auf das Feld zu fahren, mit der Hacke in der Hand, dem Pferd vor dem Pflug oder der Sähkartoffel in der Schürze...
Sicher, die EU wird Wohlstand und Müll bringen, Veränderungen, die nicht jedem passen. Aber am wenigsten haben andere als die RumänInnen das Recht, darüber zu entscheiden, ob sie diese Veränderungen wollen und gut heißen oder nicht. Ich hatte das Glück, dass ich das Leben in Stadt und auf dem Land in Deutschland und in Rumänien kennen lernen konnte. Ich habe die Wahl, welche Lebensweise ich bevorzuge. Stadt oder Land, fließend Wasser oder Plumpsklo. Diese Wahl steht auch allen RumänInnen zu. Auch wenn das manchen nicht passt oder sie zu wissen glauben, was das wahre Leben ist und was es zu erhalten gilt.
Die EU-Erweiterung sollte eine gegenseitige Bewegung aufeinander zu sein. Mit Respekt und Wertschätzung. Mit täglichen Entscheidungen. Auch darüber, wie viel Verantwortung ich abgebe oder mir nehmen lasse. Und wie viel Verantwortung ich übernehme - für mich selbst und andere. Und überhaupt - hinter dem Europa-Horizont geht’s ja schließlich auch noch weiter. Hinter der Strasse von Gibraltar, hinterm Ural liegen doch noch Welten! Ach, was sag ich - liegt EINE Welt!