Von Folklore, Orientierungsverlust, bunten Bäumen und Einsamkeit
Der Titel ist Programm, denn Jule_in_Lettland hat viel zu berichten, über ihr neues Leben, ihre Wohnung und die Arbeit. "Das wird schon alles, irgendwie", sagt sie, und hat damit sicher recht.
Jüngste Ereignisse
Es tut mir sehr leid, dass ich jetzt erst schreibe…
Eigentlich hab ich es mir schon für Sonntag vorgenommen, aber da funktionierte dann zu meiner eigenen Überraschung Skype und das hat mein Leben hier in Jekabpils schon in gewisser Weise revolutioniert…
Endlich konnte ich meine Erlebnisse, Ängste, Zweifel, Ärgernisse und auch die positiven Dinge reflektieren und mir von der Seele sprechen und das hat halt echt lange gedauert ;-).
Es gibt nämlich wirklich einiges, was mich hier sehr deprimiert, etwa dass ich keinen anderen jüngeren Mitbewohner in dieser schrecklichen Wohnung habe, nur eine etwa 50 Jahre alte Frau, die kein Wort Englisch spricht und sich auch immer in ihr Zimmer verkrümelt, um dann ganz laut mit ihrem Minifernseher, der total rauscht, lettisch-russische Musiksendungen zu schauen.
Oder das Nichtvorhandensein einer funktionierenden Heizung, die Zentralheizung dieser Stadt wird erst ungefähr im November angeschaltet, wenn sich der Stadtrat endlich mal dazu bequemt zu denken, dass es jetzt kalt genug ist ;-), sowie das Nichtvorhandensein einer Waschmaschine, Teppiche und Blumen in der Wohnung, eines anderen Freiwilligen in der Stadt, eines Bettes ohne Flöhe, einer ganzen Tapete, eines nicht mit Fett verkrusten Gasherdes, am Anfang auch eines Toilettendeckels…
Naja, letzten Sonntag (! Häh was ist mit Tag der Familie oder der Ruhe?) hab ich dann auch erstmal mit meinem Vermieter (ja der kümmert sich wirklich mal, da könnten sich die deutschen Dienstleister mal eine Scheibe abschneiden) einen Baummarkt gestürmt, um ein paar fehlende Dinge zu kaufen, nur leider steckt Lettland gerade in einer ökonomischen Krise, so dass die Preise den deutschen entsprechen und das Budget eines Freiwilligendienstleistenden ist ja nicht gerade das größte…
Aber wenigstens habe ich jetzt einen nagelneuen Toilettendeckel!
Also wie gesagt, diese Wohnung, die so leer, kaputt, dreckig, kalt und groß ist kostet mich wirklich viel Kraft und dadurch habe ich auch gelernt, wie wichtig ein schönes Zuhause ist, wo man sich Sonntagmorgen an einen riesigen Frühstückstisch setzt oder abends nach einem anstrengenden Tag eine Tasse Tee mit seinen Eltern trinkt und die nächste gemeinsame Zeit organisiert…
Also eigentlich wollte ich dann gestern, sprich Montag endlich mal meinen Blog schreiben, aber da ich erst um vier Montags arbeiten muss, habe ich mich dazu entschlossen um den ganzen See zu joggen, der hier bei mir gleich um die Ecke liegt.
Dieser See baut mich immer auf, wenn es mir nicht sehr gut geht, der ist nämlich wirklich jeden Flohbiss und jeden kalten Finger wert;-)
Dabei bin ich mal in die entgegengesetzte Richtung gelaufen und habe mich just verlaufen…
Verzweifelt bin ich an mittelalterlichen Bauernhöfen vorbei gerannt, die von Hühnern, Kanickeln, tausenden kläffenden Hunden über Omis, die aussehen wie die Hexe Babajaga,
alles haben, was das Herz begehrt, an blauen und roten Holzhäusern im schwedischen Stil, an großen herbstlich rot und orange gefärbten Bäumen, an riesigen Luxusvillen, an heruntergekommen Plattenbauten…
Und ich bin mitten durch Felder und Wälder gerannt, auf der Suche nach diesem eigentlich riesigen See und einem einigermaßen passablen Weg.
Nur wenn man noch kein Wort Lettisch kann (und bei Joggingtouren hab ich auch gewöhnlicherweise keinen Sprachführer mit, sowie einen Stadtplan) ist es schwer, ein Mütterchen, welches einen böse anfunkelt und wild gestikulierend den eigenen Bauernhof beschützt nach dem Weg zu fragen, da helfen selbst meine schauspielerischen Künste nicht weiter (ich habe eine Wellenbewegung mit der Hand gemacht und einen Schwimmer mit vollem Körpereinsatz dargestellt, das ist doch eindeutig, oder?)
Nachdem ich also gefühlte sechs Mal den gleichen Weg im Kreis gerannt bin, kam ich dann nach drei Stunden endlich zu Hause an und dann wirkt selbst eine eklige Badewanne sehr verlockend, aber nur für eine heiße Dusche, reinlegen würde ich mich dort nie!
Es gibt auch Schönes zu berichten…
...das hört sich jetzt alles so total negativ an, aber ich hab auch schon in der Platte gegenüber eine Art Freundin, mit der ich letzten Freitag nach lettischer Manier feiern war… Das heißt mit Karacho durch die Stadt heizen, dabei laut Elektro hören, Billard spielen, dann an einem See mit Sisha und rotem Wodka vorglühen und danach geht es ab in den Club, der voll mit wunderschönen Mädchen ist, die fast alle Stöckelschuhe trage und aussehen, als würden sie zu einer Filmpremiere gehen…
Mann, kam ich mir underdressed vor, denn ich war mal wieder total müde am Freitag (ich bin in diesem Land irgendwie dauermüde, liegt das an der Kälte oder was?)
und hab mich etwas ausgeruht und dabei die Zeit etwas verkannt, so dass ich mich blitzschnell fertig gemacht hab…
Die Letten legen im Allgemeinen sehr viel Wert auf ihr Äußeres, so viel Glitzer, unechte Fingernägel und Lackschuhe bei Jungen hab ich echt kaum gesehen…
Auch auf Statussymbole wie ein schickes Auto wird sehr geachtet, ich hab mal gehört, dass die Wohnungen meistens wirklich nicht so wichtig sind und dementsprechend auch so aussehen, wie ein großes Auto!
Naja, auf alle Fälle sind die Menschen hier, die ich bis jetzt kennengelernt habe, mir gegenüber sehr schüchtern, aber auch sehr freundlich!
Ich falle hier auch nicht besonders auf, so oft wurde ich schon auf Lettisch angequatscht. Ein Beispiel dazu: Jule war etwas tanzmüde im Club und setzt sich auf die Ledercouch… Jule wird auf Lettisch angequatscht… Wow, Jule war total überrascht, Jule sagt: „Sorry I don’t understand you“, Typi sagt: “Go away, this are our seats, they are reserved!” Das zur osteuropäischen Freundlichkeit!
Also es war trotzdem ein schöner und interessanter Abend!
Am darauf folgenden Samstag hab ich erstmal verschlafen und bin dann den gesamten Weg zum Jugendzentrum gejoggt, denn halb zehn ging der kleine Bus voll gestopft mit Kindern, Instrumenten und Gott-sei-dank auch mit mir nach Daugavpils, der zweitgrößten Stadt Lettlands, wo ein Folklorefest stattfand.
Also eins muss man den Letten lassen, sie lieben ihre Nationaltänze und haben das auch echt voll drauf!
Alle Generationen formieren sich da in Gruppen und tanzen wunderschöne Gruppentänze, singen ihre Nationallieder und machen sowohl mit Orchesterinstrumenten, als auch mit Pfannen(;-) wirklich) Musik, die nach Sehnsucht, Freude, Heimat, Natur und bäuerlichem Leben klingt.
Der Tag war wirklich herrlich, denn dazu gab es für alle Zuschauer dunkles Brot in Honig getränkt und zuckersüßen Minztee, sowie kleiner Stände, wo Schmuck, Handwerk und Süßigkeiten verkauft wurden.
Leider waren die Kinder der Gruppe zu klein, um mit mir kommunizieren zu können und das ist aber mein Fehler, ich bin ja diejenige, die endlich mal Lettisch lernen muss! Es war schon schwer, den ganzen Tag gar nicht zu reden und sich mit niemanden über die Ereignisse austauschen zu können, gerade für eine Person wie mich, die meistens Trubel und ganz viel Reflektion und Kommunikation brauch.
Es gab auch nicht so schöne Dinge in der Großstadt, etwa der Betrunkene, der sich in Daugavapils in eine Strassenbahn mit den Händen die Treppen hochgezogen hat, weil er es anders nicht hinbekommen hätte... die haben schon krasse Alkoholprobleme hier...
Man sieht Menschen, die ganz apathisch und mit glühenden Gesichtern auf Parkbänken sitzen oder gestern bei meiner Arbeit in dem einen Jugendzentrum sind mir zwei Jungen aufgefallen, so um die zwanzig Jahre alt, die vor der Tür Alkohol getrunken haben und dann drin Tischtennis spielten… WOW, es war vielleicht um fünf und da drin waren auch kleinere Kinder und die Fahne hab ich sofort gerochen…
Na gut aber jetzt zu meiner Arbeit…
Ehrlich gesagt ist sie der einzige Grund, der mich hier hält.
Ich arbeite drei Tage die Woche in einem projektbezogenen Jugendzentrum, welches Kurse etwa in Töpfern, Lederarbeit, Folklore, Tanzen, Kleider schneidern, Teppich-Weben, Aerobic etc. anbietet.
Dort fühle ich mich sehr wohl, es ist ein großes, gut ausgestattetes, freundliches Haus und ich kann an allen möglichen Aktivitäten teilnehmen, zum Beispiel bin ich jetzt schon aktives Mitglied des Aerobickurses HIHIHI.
Zweimal in der Woche, Mittwoch und Donnerstag trifft sich der Jugendclub, die Mitglieder sind zwischen fünfzehn und achtzehn Jahre alt und treffen sich, um an verschiedenen Projekten zu arbeiten - gerade nehmen sich an einem landesweiten Plakatwettbewerb teil.
Oder sie quatschen und tauschen sich einfach über ihre Probleme aus.
Innerhalb dieser Gruppe werde ich auch das erste Projekt starten, ich bin am Donnerstag etwa der Leader des Clubs und werde auch innerhalb der Gruppe ein „Practicing German Projekt“ anbieten…
Etwa ab ein oder zwei Uhr nachmittags bin ich von Mittwoch bis Freitag in diesem Zentrum und diese Woche zum Beispiel mach ich Photos von allen Aktivitäten und erstelle eine Powerpointpräsentation auf Englisch. Letzte Woche wurde ich sogar vom lokalen Fernsehsender interviewt und war im Fernsehen, das hab ich mir dann aber doch lieber nicht angeschaut. ;-)
Total freue ich mich auf verschiedene Ausflüge nach Riga, Estland etc. zu Seminaren zwischen den Jugendhäusern des Baltikums, um Ideen auszutauschen!
Naja in der Zukunft werde ich noch an alle möglichen Schulen der Stadt geschickt, um Vorträge über mich, Deutschland und den EFD zu halten.
Ansonsten bin ich noch Montag in einem Jugendclub namens "Smaids" (heißt Lächeln) in so einem Plattenbau, wo die Kinder nach der Schule ihre Zeit verbringen können und spielen, malen etc… Dort waren halt auch die zwei älteren Jungs… Das ist eher eine ärmliche Gegend und das Zentrum ist auch nicht so gut ausgestattet!
Auch Dienstag bin ich in so einem Zentrum namens "Laipa" (heißt Steg), mal sehen, wie das so wird, denn diese Arbeit finde ich eher langweilig, denn die Kinder verstehe ich noch nicht und die meisten beschäftigen sich eh selbst, deshalb hab ich da nicht ganz so viel zu tun. ;-) Auch wusste die Betreuerin nicht soviel mit mir anzufangen und hat aus lauter Unsicherheit ihre Tochter in das Zentrum geschickt, die sehr gut Englisch kann Aber eigentlich hatte ich gar keine Fragen oder so…
Ach Mensch, Sprachbarrieren sind echt blöd, aber ich hab insgesamt 48 Privatstunden bei einer Deutschlehrerin, die gleichzeitig auch meine Mentorin ist: Dzintra, eine sehr nette Person, die mich auch immer fragt, wie es mir geht… Das tut wirklich gut. ;-)
Ach und mit meiner Chefin Lilija hab ich zwar immer etwas Kommunikationsprobleme, aber wir verstehen uns super, lachen viel und gehen auch ab jetzt immer zusammen im Stadium joggen, da kann ich mich wenigstens nicht verlaufen.
Und als letztes etwas zur Stadt
Ja was sagt man dazu, es ist halt anders, nich;-)
Also so etwas wie einen richtigen Altstadtkern gibt es nicht, nur eine lange Hauptstraße, die ein paar ältere Häuser und Kirchen aufzuweisen hat, aber ansonsten gibt es hier nur diesen größeren Fluss, die Daugava, der Hauptfluss Lettlands, 25.000 Einwohner, mindestens genau so viele Katzen und Supermärkte, es gibt kaum nette Strassencafes, es gibt Billiardklubs und Hallen mit Spielautomaten, den See, an dem gleich auch eine Erholungspark liegt zum Wandern und Kanufahren etc,
eine Paintballanlage, die aber eher unbenutzt aussieht,
ganz viele Plattenbauten, aber direkt daneben dann wieder sehr dörfliche Wohnanlagen und Bäuernhöfe,
sehr viel Bäume gibt es, das ist wirklich herrlich, mehrere Schulen und zwei Clubs, in denen aber nur Elektro läuft, alternativere Menschen, so wie mich ;-) gibt es hier kaum, deshalb gibt es auch keinen Indieschuppen, aber das hab ich auch nicht erwartet,
es gibt leider kein Kino, und auch die Geschäfte laden nicht gerade zum Rumbummel ein, sondern verkaufen eher nur das Nötigste…
Aber eigentlich schlender ich ganz gern durch die Gegend, denn gerade wird überall das Herbstlaub verbrannt und das riecht total herrlich und sieht auch ziemlich lustig aus, wenn überall diese brennenden Häuflein rumliegen...
Na gut, jetzt habt ihr einen kleineren Überblick über mein Leben hier bekommen, langsam fange ich mich auch wieder von meinem Anfangsschock…
Das wird schon alles, irgendwie ;-)
Wenn ihr weitere Fragen habt,
meldet euch ruhig bei mir…
Eure Jule
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