Vom Sommer in den winterähnlichen Herbst ;)
Erlebnisse, die einen auch irgendwie prägen.
Suvi ist nun vergangen und Sügis ist da, auch wenn er sich wie ein deutscher Winter anfühlt. Mit dem Herbstanfang sind nämlich die zweistelligen Temperaturen verschwunden und die nächtlichen Minusgrade gekommen.
Dennoch bezeichnen die Esten es als soe (warm), wenn es über 0 Grad Celsius sind.
Päevakeskus Käo Sünnipäevaks (dritter Jahrestag meiner Arbeitstelle)
Anlässlich des Jahrestages meiner Arbeitsstelle führten wir mit allen Gruppen ein Theaterstück auf, da einige Gäste geladen waren. Meine Gruppe machte den Anfang und inszenierte die Waldelfen zu Hobbit-ähnlicher Instrumentalmusik.
Einen Tag davor hatten wir noch extra Apfelkuchen gebacken, da in Estland Gastfreundlichkeit ohne etwas zu Essen niemals existieren könnte :-D.
Aber auch sonst fertigen wir beispielsweise Kerzen und deren Unterteller in den Gruppen an, die dann verkauft werden, oder versuchen die Feinmotorik der zu Betreuenden zu fördern, in dem wir mit ihnen basteln, malen oder Sandwiches zubereiten.
Und eins der Highlights für die Gruppen ist jeden Freitag die "Disko". Da kommen alle Mitarbeiter und Klienten zusammen, um den Abschied ins Wochenende gemeinsam zu feiern und anschließend werden Lieder abgespielt, zu denen dann getanzt werden kann.
Das ist auch etwas, was ich nie so erwartet hätte.. Wenn man einmal erlebt hat, wie sehr sich die Klienten darauf freuen und wie sehr sie mitmachen trotz ihrer teilweise auch körperlichen Einschränkungen, dann begeistert das einen selbst auch irgendwie mit.
Viru raba ja Jägala juga (Das Moor im Gebiet Viru und der Jägala Wasserfall)
In Estland gibt es nur wenige Wasserfälle, ich glaube sogar nur zwei. Und wenn man dann vor einem der beiden steht, ist das schon etwas besonderes :-)
Hier das ist der Jägala Wasserfall und das Bild ist das Ergebnis eines sehr schönen Tages mit meiner Arbeitskollegin und mittlerweile guten Freundin Karoliina rechts von mir. Zusammen mit ihr, einer Freundin von ihr und ihrem Freund, waren Alli - eine deutsche Freiwillige aus Dresden, die hier in meiner Nähe wohnt - und ich letzten Samstag im Moor in der Nähe von Tallinn.
Das Wetter war sehr sonnig und warm, deshalb mussten wir das ausnutzen ;D
Telliskivi, Linnahall ja pühapäeva (Telliskivi, Linnhall und Sonntage)
Linnahall ist ein Überbleibsel aus der Sowjetzeit und man mag es zuerst für eine ehemalige Schule oder ein ehemaliges Gefängnis halten. Dabei war es früher eine riesige Konzerthalle.
Von außen mittlerweile mit Unkraut bewachsen, mit Graffities besprayed und von Vogelschwärmen zeitweise bevölkert, ist es ein Ort für Ruhe und Entspannung geworden.
Menschen kommen her, um die Sonnenstrahlen einzufangen, um dem Rauschen der ruhigen Ostsee zuzuhören und einfach der Fantasie beim Blick über diesen Teil von Tallinns Hafen freien Lauf zu lassen.
There's some place
I'll never forget
No time to regret
Linnahall,
A piece of Tallinn's face..
(03. Oktoober 2015)
Telliskivi lässt sich dagegen ganz einfach als das Kunstviertel Tallinns beschreiben. Leerstehende Fabrikgebäude sind in stilvolle, gemütliche und kunstvolle Cafés, Bars und Restaurants umgewandelt worden. Hier finden zum Beispiel das Streetartfestival, Konzerte und Ausstellungen statt und es gibt einen kleinen Theaterkeller.
Einer der letzten Sonntage habe ich dann mit anderen Freiwilligen mit einem Picknick am Stroomi Strand, einem anschließenden (barfüßigen) Strandspaziergang nach Telliskivi und einem leckeren Stück hausgemachten Käsekuchen mit Erdbeersoße und einem warmen Kakao im Café Lendav Taldrik in Telliskivi verbracht.
Dessert ist eins der Dinge, die Esten wirklich im Blut liegen. Noch nie habe ich so viele verschiedene, gute und ausgefallene Desserts gesehen wie hier.. nicht mal in Paris.
Aber auch kulturell gibt es hier einiges.. oder historisch wenn man es genau nimmt. Zum Beispiel lohnt sich eine Führung durch das Patarei vanglamuuseum, das ehemalige Gefängnis Tallinns, was besonders zur Zeit des Dritten Reichs und der anschließenden Sowjetherrschaft Gebrauch gefunden hat. Anfangs nur mit männlichen Erwachsenen belegt, kamen später auch Frauen und Jugendliche sowie politische Gefangene und zum Tode Verurteilte hinzu.
Töö (Arbeit)
Letzten Donnerstag sind zwei merkwürdige Dinge passiert.
Nach der Teezeit, die der deutschen "Kaffeezeit" entspricht, hat jeder Klient die Aufgabe, die Kärtchen seines Tagesplans wieder in seine Mappe zu machen. Leider vergaß ich, dass eine Klientin keine Kärtchen hat, sondern jeden Morgen ihren Tagesplan auf ein Blatt Papier schreibt und dieses Blatt am Ende des Tages - nach der Teezeit - dann in ihre Tasche macht.
Nun kam es so, dass ich letzten Donnerstag jedem nach der Teezeit auf Etnisch sagte, er solle seinen Plan abheften (Pane plane maha), und alle folgten dieser Anweisung bis auf diese eine Klientin.
Sie drehte sich um und schaute mich ganz komisch an. Weil ich dachte, sie hätte mein Estnisch nicht verstanden, wiederholte ich diesen Satz und sie begann mir auf Estnisch etwas zu erklären, was ich aber nicht verstand. Zu diesem Zeitpunkt kam dann eine meiner Kolleginnen in den Raum, übersetzte alles und ich lief rot an, als das Missverständnis aufgeklärt wurde. Denn prompt fiel mir wieder ein, dass diese Klientin ja einen geschriebenen Plan hatte und sie ihn deshalb nicht "abheften" konnte, weshalb meine Anweisung für sie auch keinen Sinn ergab.
Ungefähr zehn Minuten später passierte dann das Nächste.. Ich stand mit meiner Kollegin im Flur und unterhielt mich über den Tagesablauf des nächsten Tages, als eine andere Klientin den Flur entlang lief, in die Küche ging, sich umdrehte, zurückkam, vor mir stehen blieb, mich anschaute, lächelte und mich umarmte. Ich war so überrascht, dass ich erstmal gar nicht wusste, was ich sagen sollte, aber ich musste auch lächeln. Und dann ließ sie mich nach ein paar Sekunden wieder los und ihr Lächeln war noch größer als davor. Das war echt ein großartiges Erlebnis!
Eesti keele (estnische Sprache)
Vor zwei Tagen hatte ich dann auch zum ersten Mal meinen Sprachkurs in Estnisch und ich bin begeistert davon. Die Lehrerin ist super und macht alles sehr anschaulich aber trotzdem anfordernd, so dass wir vieles praktisch anwenden und Spaß daran haben.
Wir haben erst einmal gelernt uns zu begrüßen und vorzustellen, zu fragen, wie es einem geht, und die Wörter/Buchstaben richtig auszusprechen.
Morgen, am Dienstag, geht es dann weiter. Darauf bin ich schon sehr gespannt.
Järeldus (Fazit)
Ich bin weiterhin sehr glücklich hier und freue mich über alles was sich so ergibt. Die Arbeit mit den geistig Behinderten macht mir immer noch sehr viel Spaß und ich lerne mit jedem Tag mehr die Entwicklung jedes Einzelnen besser zu verstehen.
Auch erinnert es mich manchmal sehr an die Zeit in meinem Praktikum im Kindergarten vor dreieinhalb Jahren und bei einem Spaziergang mit meiner Kollegin Karoliina habe ich erfahren, dass der geistige Stand der Klienten aus meiner Gruppe wie der von drei- bis sechsjährigen Kindern ist.
Wenn man alles auf sich zukommen lässt, sich anschließend die Zeit nimmt, um darüber nachzudenken, es zu verarbeiten und aufzunehmen, und Menschen um sich hat, die die Eindrücke mit ihrem Fachwissen vielleicht plausibel ergänzen können, dann wird es wohl nie eine Phase der Stagnation geben. Und das ist gut so.