Über neue Anfänge, wunderschöne Orte und den Beginn von Freundschaften.
Alleine in einer komplett neuen Umgebung zu landen, hat mir auf einmal bewusst gemacht, wie wertvoll es ist, Freunde bei sich zu haben. Zuhause vergessene Schuhe oder Yogurt, der nicht wie daheim schmeckt, sind Probleme, von denen ich nun merke, wie banal sie eigentlich sind, weil viel Wichtigeres fehlt. Ein Freund, der da ist, versteht, Pläne schmiedet und durch Schwierigkeiten hilft, ist, was ich wirklich brauche, nicht die praktische Zahnseide von Müller oder einen Puderpinsel.
Aber Freundschaft kann man nicht planen. Sie hat keinen auf die Sekunde bestimmbaren Anfang und kein vorhersehbares Ende. Sie hat keine vorgegebenen Grenzen oder Rahmen. Sie ist unberechenbar. Also woher weiß ich dann, dass ich den neuen Freund gefunden habe, den ich hier so sehr brauche?
Am Dienstag, den 7 August endete meine erste Woche und damit die einsamen Fahrradtouren und Stadterkundungsrunden, auf denen ich einige wichtig aussehende Gebäude entdeckte, dessen Bestimmung allerdings nur auf Ungarisch nachzulesen gewesen wäre:D. Ich machte mich mit einer Gruppe Franzosen auf den Weg nach Hortobagy und entkam damit den von Zweifeln und Fragen durchwachsenen ersten Tagen, sowie dem gewöhnungsbedürftigen Cafeteria Essen, auf das ich schon nach einer Woche gut verzichten kann (Ich hoffe, das ist nicht die traditionelle Ungarische Küche!:D). Mein erstes großes Projekt, ein internationales Workcamp mit Teilnehmern aus Ungarn, Frankreich und Deutschland begann. Von den anderen Freiwilligen hatte ich schon einiges über solche Camps gehört. Anstrengend sollten sie sein und auch oft sehr nervenaufreibend. Meine Erwartungen waren demnach nicht sehr hoch. So hatte ich nicht mit dem gerechnet, was ich dort schließlich tatsächlich fand: den schönsten Platz der Welt und eine neue Freundin.
Hortobagy ist eine kleine Gemeinde mitten im größten und ältesten Nationalparks Ungarns und steckt voller Natur, die verzaubert. Leuchtende Sonnenblumenfelder und steppengleiche Graslandschafften streckten sich bis an den Horizont und charakterisieren die ungarische Puszta. Beinahe alle Bäume und Büsche dort sind schwer beladen mit knackigen Birnen, gelben Mirabellen, süßen Weintrauben, Zwetschen und Äpfeln, die zum Naschen einladen. Riesige Schafherden, weltweit einzigartige ungarische Graurinder, majestätische Pferde, Wasserbüffel, frei herumstolzierende Hühner und unzählige Vögel aller Art tummeln sich hier. Wo kommen bloß all die Tiere her, wo all die Früchte? Wo kommen all die Sterne her und die Sternschnuppen, die man hier bestaunen kann? Die Welt steckt voller beindruckenden Landschafften, und diese ist sicher eine der schönsten, die man dort finden kann, um den Sommer zu verbringen und die ungarischen Traditionen zu bestaunen.
Mitten in dieser Traumlandschafft durfte ich nun also die nächsten 10 Tage verbringen. Morgens arbeitete das gesamte Camp gemeinsam in einem Vogelkrankenhaus. Das bedeutete: Vogelkäfige reinigen, Wege erneuern, Unkraut zupfen, Holzbrücken streichen und einiges mehr unter der heißen ungarischen Sonne, die uns Temperaturen bis 40 Grad verschaffte. Aber am Ende wurde ich belohnt von dem Gefühl, tatsächlich etwas geschafft zu haben und dem berauschenden Augenblick, in dem wir einen wieder lebensstarken Storch in den Himmel und die Freiheit entlassen konnten. An den Nachmittagen haben wir uns mit Fahrrad, Kamera oder Boot auf Entdeckungstour durch den Nationalpark gemacht. Durch eine ungarische Küche, einem Lederhandwerkskurs und einer beindruckenden Kutschfahrt durch die Puszta, konnten wir das traditionelle Ungarn hautnah erleben. Mir wurde auch die Technik des Peitscheschwingens, bis sie in der Luft schnalzt, beigebracht, was tief in der ungarischen Kultur verwurzelt ist. Deutsche Fragen auf Englisch beantworten und andersrum wurde zum Alltag. Ein Sprachenwirrwarr, bereichert durch französische Sätze und Wortfetzen sowie durch meine ersten vereinzelten Wörter in Ungarisch, die ich in meine Sätze mischte, begleitete mich ständig. „Can you give me the Taliszka (ungarisch für Schubkarre)?“ wurde zu einer der häufigst gestellten Fragen. (Mir blieb auch gar nichts anderes übrig, als sie so zu stellen. Was nämlich Schubkarre auf Englisch heißt, das weiß ich bis jetzt nicht. Aber Hauptsache mein erstes ungarisches Wort, was ich kann, ist Taliszka:D)
Neben all diesen Erfahrungen hat mir meine Rolle in der Gruppe jedoch einiges zu schaffen gemacht. Größtenteils wohl, weil keiner mir so wirklich sagen konnte, was meine Rolle überhaupt ist. Es fühlte sich so an, als wüsste das auch keiner. Ich habe die Deutsche Gruppe in der Nacht zum 8. August empfangen, stellte mich als ESK-lerin vor, hatte ein paar Kamera Einführungstreffen, wohnte ein Stockwerk höher bei anderen Freiwilligen und verschwand immer wieder in meine ersten Sprachkurse. Doch an den meisten gruppenstärkenden Aufgaben und Nachmittagsausflügen habe ich trotzdem teilgenommen. Es wurde nie wirklich klar, ob ich nun eine Teilnehmerin war oder eine Freiwillige, nicht für mich und nicht für alle anderen. Es wirkte, als hätte ich Ahnung und eine Sonderstellung, aber ich habe mich nicht gefühlt, als hätte ich das. Hatte ich nun extra Rechte und Pflichten oder war ich wie alle andern hier? Gehörte ich in die Gruppe der Jugendlichen im Urlaub oder war ich doch eine deutsche Freiwillige, die vor etwas viel Größerem als einem Sommerferiencamp stand? Was war meine Aufgabe hier? Mit wem kann ich mich identifizieren und mit wem nicht? Fragen, auf die ich bis heute keine Antwort finden konnte.
Freunde finden, das schien unmöglich. Das Gefühl, nirgends richtig hin zu gehören, wollte einfach nicht vergehen. Nicht nur in dieser Gruppe, sondern auch im viel Größeren. Urlauberin bin ich nicht, aber ich gehöre auch nicht nach Ungarn. Die Frage, was ich sonst bin, die Frage nach meiner Rolle und Aufgabe in dieser fremden Umgebung, hat mir so einige nachdenkliche und schwierige Momente beschert. Optimistisch bleiben ist noch nie so schwer gewesen, wie es jetzt ist! Ich versuche steht’s mein Bestes zu geben, nicht die Nerven zu verlieren und zu wirken, als wüsste ich, was ich zu tun habe. Dass ich in Wirklichkeit keine Ahnung hatte, was ich hier soll, wollte ich nicht zeigen. In einem fremden Land heißt es da nämlich durchhalten, bis alles besser wird und man seinen Platz gefunden hat. Die schönen Momente und bereichernden Erfahrungen zählen und sich von verzweifelten Augenblicken nicht überwältigen zu lassen. „Weinen ist aber ok, alleine ist man nicht“, hat mir Szilveszter, ein rumänischer Freiwilliger, gesagt, als er mich am letzten Abend total überfordert von all dem Trubel entdeckte, „Das Leben ist wie eine Achterbahn, es muss manchmal runtergehen, um wieder aufzusteigen“. In dem Moment wurde mir klar, welche Erfahrungen tatsächlich die sind, die einen am meisten Kraft geben, aus welchen man am meisten mitnimmt. Es sind genau solche Schmerzmomente, die es alleine oder zusammen zu überwältigen gilt, an denen man in so einem Freiwilligen Jahr am meisten wächst. Es ist die Frage nach einer Rolle, seiner Identität und dem Sinn hinter all dem Leid und den Schwierigkeiten, die man freiwillig auf sich nimmt. Es sind diese Art von Begegnungen und kraftgebenden Worte, weshalb es sich lohnt, solch ein Abenteuer zu wagen und es sind die neuen Freunde, die man vielleicht einfach zwischen denen suchen muss, die in derselben Situation stecken, wie man selber.
Denn neben all den Jugendlichen im Camp, gibt es ein Mädchen, welchem es gelungen ist, dass ich mich nun, auch noch nach dem Camp, tatsächlich willkommen und ein wenig zuhause fühle. Schwer ist es immer noch, aber durch sie war es einfacher. Identifizieren konnte ich mich mit keinem habe ich gemeint? Falsch, mit ihr konnte ich das. Als ich am Dienstag in das Zimmer der blonden, quirligen, deutschen Freiwilligen des Vogelkrankenhauses kam und die ersten paar Worte mit ihr wechselte, fühlte es sich an, wie ein wenig Heimat im fremden Ungarn. Jetzt, nach ein paar Tagen, fühlt es sich noch nach viel mehr an, wenn ich mit Elisabeth unterwegs bin. Das freudige „Yuhu, ich kann mit wem Deutsch reden“ ist zu Freundschaft geworden. Dass wir uns nur 10 Tage kennen, wirkt kaum so. Wir haben schon Geschichten ausgetauscht, Pläne geschmiedet und Probleme gelöst, die nur Freiwillige haben können und keine Campurlauber. Wenn wir über das Vermissen und die Frage nach dem Ankommen in einer fremden Kultur gesprochen haben, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, jemand kann wirklich verstehen, wie es mir geht. Egal wie oft ich nachhause telefoniert habe, die Anteilnahme war echt, aber das mich Verstehen wollen blieb steht’s nur ein Versuch. Elisabeth musste das nicht erst versuchen, sie kennt die Situation. Das Alleine-Gefühl scheint nun Stück für Stück weniger zu werden. Gemeinsamkeiten waren überall. All die Teambildungsspiele waren chancenlos dagegen. Beim Löcher in Schuhen mir Dachbelag stopfen und Weintrauben klauen, beim Vögel vorm Verdursten retten und Katzen vorm Verhungern oder beim Pfannen und Töpfe vom Sperrmüll sammeln und Essen so geldsparend wie möglich zu organisieren, dabei entstand wirklich Zusammenhalt. Kann man so schnell zu so guten Freunden werden? Kann man nach so wenigen Tagen schon sicher sein, dass man gut zusammenpassen wird? Dass man wen gefunden hat, mit dem man im nächste Jahr immer reden kann, wenn alles zu viel wird? Ja, ich glaube, das geht. Ich habe eine Freundin hier gefunden. Eine wunderbare Freundin. Wir zusammen werden, da bin ich mir ganz sicher, Ungarn rocken:).