Über das Gefühl des Heimkommens
“Are you on your way home?”, erkundigte sich der serbische Offizier der Grenzbehörde forschend, nachdem er prüfend meinen deutschen Ausweis betrachtet hatte. „Ähm… to Debrecen…ähm“, war das einzige, was ich auf diese völlig unerwartete Frage antworten konnte. Sicher war dieses Herumstottern auch müdigkeitsbedingt. Aber nicht nur das, ich kannte die Antwort auf diese Frage in diesem Moment überhaupt nicht. War ich auf dem Weg nach Hause? Ich wusste es nicht!
Als die Grenzkontrolle der anderen Seite jedoch meinen Pass mit dem altbekannten „Jó reggelt“ und „Köszönőm“ entgegennahm, fühlte sich das auf einmal merkwürdig vertraut an. Nach den ziemlich unbekannten Wörtern und Sätzen des Serbischen, erkannte ich die seltsamen Satzstrukturen und den gewohnten Klang der ungarischen Sprache sofort. Auch wenn ich kein weiteres Wort des Grenzoffiziers tatsächlich übersetzen konnte und hilfesuchend wieder nach dem Englischen griff, fühlte ich mich doch auf einmal ganz warm und willkommen. Das brüchige Deutsch, auf dem mir der Offizier stolz Fragen stellte, nachdem er meinen Pass gesehen hatte, wirkte viel fremder und unerwarteter. Davon war ich so überrumpelt, dass ich, sehr zu der Enttäuschung des Kontrolleurs, weiterhin in Englisch antwortete. Das aber noch vor drei Monaten tatsächlich fremde Ungarische löste ein überraschendes Gefühl der Verbundenheit aus. Ist das das Gefühl einer Heimkehrenden?
Bis zu diesem sonderbaren Moment hatte ich von Ungarn noch nie als mein Zuhause gesprochen. Mein Zuhause ist in Deutschland, bei meinen Freunden und bei meiner Familie, daran war nicht zu rütteln. Aber die vergnügte Fröhlichkeit, die ich empfand, als wir um 3:00 Uhr morgens am 24. Oktober schließlich wieder offiziell in Ungarn waren, brachte mich auf einmal ins Grübeln. Sie musste ja irgendwo herkommen, man freut sich schließlich leider eher weniger einfach nur so. War das die lebendige Reaktion darauf, wieder dort zu sein, wo ich lebe? Dort, wo mir alles heimisch vorkommt und mir meine Umgebung nicht fremd ist? War das tatsächlich die Stimmung, welche die Erkenntnis des Nachhausekommens hervorrufen würde?
Die Frage, was die Heimat ist und wo sie liegt, wurde weltweit schon unendliche Male gestellt. „Home is where the heart is” erklären uns verspielt geschnitzte Holzschilder vor Eingangstüren das sehr philosophisch. Der Duden meint dagegen strikt, der Geburtsort ist das tatsächliche Zuhause. Das würde dann aber bedeuten, dass man nach einem Umzug nie mehr zuhause sein könnte. Vielleicht bekräftigen deswegen andere oft „Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl!“. Dass dieses Heimatgefühl jedoch fest mit bestimmten Orten verbunden ist, das kann wohl kaum jemand leugnen. Sicher ist, Heimat bedeutet für jeden etwas ganz anderes. Für mich war es stets klar, dass ich mich durch die Menschen, die ich liebte, zuhause fühlte. Nun aber, auf dem Weg zurück nach Debrecen, war ich mir dabei nicht mehr ganz so sicher. Meine Familie wartete dort nicht und auch keine altbekannten Freunde. Die Menschen, die hier einer Familie am ähnlichsten waren, saßen gerade ohnehin mit mir im Zug. Also woher kam dieses Gefühl dann?
Es ist das Zurückkehren in das Vertraute und an Orte, die mir keine Angst machen, die es hervorrufen. Klar bin ich hier in Ungarn noch immer von einer Menge Problemen und Unsicherheiten umgeben, aber ich weiß stets, welcher Weg mich zum nächsten Supermarkt führt, um Schokolade zu kaufen. Ich weiß, wo die Menschen wohnen, mit denen ich reden kann und die, mit denen ich feiern gehen kann und ich weiß, dass ich auf dem Weg zum Bahnhof nicht zu früh die Straßenseite wechseln darf, wenn ich nicht von einer Baustelle aufgehalten werden will.
Das Gefühl von Aufregung und der Durst nach Abenteuer, der mich oft in die Fremde zieht, braucht stets eine vertraute Heimat im Hintergrund, zu der man zurückkehren kann, wenn es kritisch wird. Dieser ist bei meiner Familie in Deutschland. Als ich nun aber in den späten Nachmittagszug Richtung Serbien kletterte, war auch Debrecen schon zu so einem Ort geworden, ohne dass ich das tatsächlich gemerkt hatte. Hier wartete mein Zimmer auf mich, mein Rückzugsort, an dem ich mich geborgen und sicher fühle, wenn sonst alles schiefläuft. Ich habe meine Lieblingsbar entdeckt, mit günstigem Kirschbier und ich weiß, an welchen Orten ich mich hier am wohlsten fühle. Ich weiß, wenn ich am Bahnhof in die Straßenbahn steige, komme ich unweigerlich an der gelben Kirche vorbei. Und dass die weiße Kirche kein Dach besitzt, ist für mich schon selbstverständlich.
Heimat ist die enge Verbundenheit zu einer bestimmten Gegend. Heimat bedeutet Menschen, Orte und Gefühle! Heimat kann ihren Ort ändern und ihre Menschen und es kann für einen auch mehrere Heimatorte auf einmal geben. Heimat bedeutet Vertrautheit. Ein Gefühl der Sicherheit und ein klein wenig Routine zwischen einer Menge Chaos und Neuem. Das Wissen von Orten, die einem Kraft geben. Das alles war Debrecen für mich in den letzten drei Monaten ein wenig geworden. Auf einmal schien es gar nicht mehr so merkwürdig, dass ich mich in dem Augenblick nach der letzten Grenzkontrolle auf einmal freute, bald zurück zu sein! Die Reise nach Serbien war genial, voller Erfahrungen und spannender Momente. Aber sie war auch anstrengend, zehrte ab und zu an den Nerven und steckte voller Chaos und Planungsschwierigkeiten. Alles war neu. Das war für mich die erste Reise dieser Art, mit diesen Menschen, an einen Ort, von dem ich wieder mal nichts wusste, bevor wir beschlossen hatten, ihn zu besuchen. Das alles kostet eine Menge Kraft und so war es die Aussicht auf Vertrautheit, die mir auf einmal bewusst wurde, als ich die Grenze überquert hatte. Es fühlte sich an wie Nachhausekommen, zumindest ein kleines bisschen. Also: “Yes I’m on my way home!“