Tule Talgud! / Komm hilf mit!
„Talgud“ ist ein sehr estnisches Wort, das man vielleicht als „zusammenkommen um gemeinschaftlich zu arbeiten“ übersetzen könnte. Mein Wochenende habe ich also mit einem Talgud verbracht und dort Holz gehackt, Laub gerecht und Müll im Wald aufgesammelt.
Seinen Ursprung haben Talguds in der bäuerlichen Kultur, wo sich Familien zusammengetan haben um gemeinsam Arbeiten zu verrichten, die mehr Arbeitskräfte benötigen als die eines Hofes oder Haushalts. Nach der gemeinsamen Arbeit saß man häufig bei einem Feuer zusammen und hat gegessen und gesungen. Bis heute sind Talguds ein wichtiger Teil der estnischen Kultur, die sowohl im kleinen, privaten als auch im öffentlichen Rahmen regelmäßig stattfinden. Zum Beispiel werden Naturschutzgebiete gepflegt, Wanderwege wiederhergestellt, Frösche von den Straßen eingesammelt oder auch nur Höfe für den Sommer oder Winter vorbereitet.
Das Talgud, bei dem ich mitgeholfen habe, wurde von der Sozialen Einrichtung „Sõbralt Sõbrale“ (Von Freund zu Freund) veranstaltet, bei der meine Freundin Mirjam arbeitet. Eines der Projekte von Sõbralt Sõbrale hat zum Ziel, die ethnisch russischen Jugendlichen aus der stark russisch geprägten Stadt Narva, im Osten Estlands, mit den ethnisch estnischen Jugendlichen in Kontakt zu bringen. Dazu werden die russischen und estnischen Jugendlichen mehrmals im Jahr zu einem Talgud in einer Jugendherberge im Süden Estlands eingeladen, wo sie sich durch die gemeinsame Arbeit besser kennenlernen. Dabei arbeitet Sõbralt Sõbrale mit einem Jugendzentrum in Narva zusammen, das Jugendliche aus schwierigen familiären Verhältnissen unterstützt und ihnen mehr Perspektiven bieten möchte. Die Jugendlichen kommen bereits seit vielen Jahren in die Jugendherberge und helfen bei der anfallenden Arbeit, wie die Gebäude zu putzen, Laub zu rechen oder Holz zu hacken. Für viele ist die Jugendherberge ein Ort, an dem sie sich wohlfühlen und Abwechslung von ihrem Alltag erleben können. Neben der gemeinsamen Arbeit werden auch Workshops angeboten, um Bewerbungsgespräche zu üben oder seine eigenen Stärken und Schwächen herauszufinden. Vor allem geht es jedoch um das Zusammensein der Jugendlichen, die sich gegenseitig ihre Sprachen und Kulturen näherbringen.
Zu Beginn des Talguds saßen auf der einen Seite des Raumes die estnischen und auf der anderen die russischen Jugendlichen zusammen. Nach zwei Tagen gemeinsamer Arbeit, Fußballspiele und Lagerfeuer kannten die Jugendlichen dann die beliebtesten russischen oder estnischen Youtuber, Modewörter und Songs und saßen durchmischt nebeneinander.
Um am ersten Abend miteinander warm zu werden, haben Romara und ich uns Kennenlernspiele überlegt, die auch ohne viel Sprache auskommen und den Jugendlichen viel Spaß gemacht haben. Am nächsten Morgen, von dem Haferbrei der Herbergsmutter gestärkt, ging es gleich an die Arbeit und wir haben uns in Gruppen aufgeteilt, die jede Stunde ihre Arbeit getauscht haben. Wer mit Holz hacken begonnen hat, macht weiter mit Laub rechen, Fensterputzen und Papiermüll verbrennen. Dabei war die beliebteste Aufgabe, die Holzblöcke mit der großen Maschine in Scheite zu zerteilen und an der Hauswand auf zu stapeln. Nachdem wir die Arbeit offiziell schon beendet haben, arbeiteten viele der Jugendlichen noch einige Stunden freiwillig weiter. Später am Abend saßen die Jugendlichen am Lagerfeuer zusammen und haben Gitarre gespielt und gesungen. Von diesem langen Tag waren zum Glück alle so erschöpft, dass die Jugendlichen ganz freiwillig in ihre Zimmer gegangen sind und wir nicht die bösen Aufpasser spielen mussten.
Der zweite Morgen startete mit Pfannkuchen und die Jugendlichen konnten es kaum erwarten, wieder an die Arbeit zu gehen. Als wir endlich das Laub von dem gesamten Gelände zusammengerecht haben, wurde die wiedergewonnene Wiese sogleich mit einem Fußballspiel eingeweiht. Am Nachmittag hat es angefangen zu regnen, was aber alle nur angespornt hat schneller zu arbeiten um das Holz nicht zu nass werden zu lassen. Zum Schluss saßen wir nass, aber glücklich für eine Feedbackrunde zusammen, bei der jeder etwas erzählt hat, was er während des Talguds gelernt oder besonders gemocht hat. Einige habe neue russische Wörter gelernt, andere haben es genossen, dort weitergearbeitet zu haben wo sie letzten Sommer aufgehört haben und vielen hat die Arbeit in den gemischten Gruppen gut gefallen. Auch ich habe meine ersten russischen Wörter gelernt und fand es großartig, wie sehr einfach, gemeinsame Arbeit verbindet.