"...trage es weiter, erzähle es, damit so etwas nie, nie wieder passiert."
Dieses ist die Bitte einer Frau, deren Vergangenheit ein Arzt kürzlich nur mit den Worten "Und sie leben noch?" abgetan hat, einer Frau,welche die Graultaten des deutschen Reiches am eigenem Leib erfahren musste, einer Frau bei deren Erzählungen der Blick raus auf den Balkon auf mal unsagbar interessant wird -um seine Gedanken zu sortieren, um die Tränen zu unterdrücken.
Aber fangen wir dort an, wo die Geschichte beginnt. Nicht ihre. Unsere. Schon im vorhinein sah ich in meiner Stellenbeschreibung unter anderem das "betreuen einer 93-jährigen", meine Begeisterung darüber hielt sich in Grenzen, so wusste ich bereits dass die ungarische Sprache alles andere als leicht zu lernen sei und welche Senioren könnten denn eine Fremdsprache? Ich sah schon wilde Verständigungsprobleme vor mir und eine Seniorin ,die sich das deutsche Mädchen wegwünschte um wieder in Ruhe 'Schmandromane' durchblättern zu können. Dementsprechend war ich nicht all zu traurig dass mein erster Besuch bei der besagten Dame, Àgi nèni, erst einen Monat nach dem ich bereits im Dienst war anstand. Mit dem was mich dann erwartete hatte ich nicht gerechnet. Anstatt einer alten,senilen Frau welche die Jugend für alles schlechte was in der Welt passiert verantwortlich macht trat ich einer Frau gegenüber, dessen lachen kaum herzlicher sein könnte, dessen Augen kaum mehr strahlen konnten. Ohne jegliche Hintergrundinformation hat mir dieser Anblick schon klar werden lassen welch herzlicher Frau ich gegenüber stehe.
Strahlend nahm sie mich in Empfang. Kaum saß ich, versorgt mit Tee und zahlreichen ungarischen Süßigkeiten, fiel mein Blick auf eine Urkunde an der Wand. "Bundesverdienstkreuz" las ich scheinbar lauter als ursprünglich geplant. Während wir vorher den üblichen Smalltalk über das Wetter, Ungarn und lauter belangloser Dinge austauschten hörte ich jetzt eine Vergangenheit die mir physische Übelkeit bereitete. Eine Geschichte von der Boshaftigkeit der Menschheit, vom Durchhalten und vom Überleben, von der Liebe und vom Verlieren. Eine Geschichte eines 20-jährigen Mädchens welches nie den Überlebenswillen verloren hat trotz Dingen die so schrecklich sind, dass sie das Denkvermögen übersteigen. Auf mal war der zweite Weltkrieg nicht mehr nur etwas schlimmes was ich in der Schule durchgenommen habe, auf mal war alles so real, so nah. Wie sich damals niemand ausmalen konnten, dass die Unruhen in Deutschland nach Ungarn rüber kamen, wie Konzentrationslager nur als Gerücht abgetan wurden weil niemand sich etwas derart grausames vorstellen konnte, wie Àgi nèni das letzte mal ihre Familie sah ohne zu ahnen dass es das letzte mal sein würde- für immer.
Trotz all dem, oder vielleicht auch genau deswegen, ist Àgi nèni wohl die lebenfrohste Person der ich je begegnen durfte. Ihre Geschichte macht es nur noch verwunderlicher mit welcher Offenherzigkeit sie auf Fremde zugeht. Wie sie nachdem sie über ihre Vergangenheit erzählt hat und merkt, wie sehr mich das mitnimmt mir mit strahlenden Augen ihre neuen Blumen präsentiert. Wie sie, die mit 28 kg Körpergewicht und 41 Grad Fieber Zwangsarbeiterin bei Daimler war, immer davon spricht sie würde mit ihrem Mercedes kommen und damit ihr Rollator gemeint ist an dem ein Mercedes Stern vor sich hinbaumelt. Regelmäßig werde ich mit dem Satz begrüßt: "Stell dir vor was passiert ist!" und jedes mal ahne ich schon im vorhinein was passiert ist: eine Schulklasse möchte sie kennenlernen nach dem die Jugendlichen von ihrer Geschichte hörten, der neue ungarische Kulturminister hat sie eingeladen, der Vorstand der jüdischen Gemeinde hat ein Anliegen und so weiter. Àgi wird sehr geschätzt und das mit anzusehen macht mich glücklich. Aus der Schrecklichkeit ihrer Vergangenheit macht sie das Beste und erzählt es weiter, klärt die Menschen auf. Dabei möchte ich unterstützen, weshalb sie meine besondere Person ist- meine "magyar néni".
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