Torunski Sen
Alle Jahre wieder kommt in Polen die Zeit der Magisterprüfungen. Und im aktuellen Reigen der bestehenden und feiernden Motykaner war diesmal jemand ganz besonderes: Beata. Man mag sich vorstellen, was sie hinterher gemacht hat. Mit allem Grund. Denn gleich danach geht es für sie zu einem Jahr Europäischen Freiwilligendienstes in Tschechien. Ich war eingeladen.
Alle Jahre wieder kommt in Polen die Zeit der Magisterprüfungen. Und im aktuellen Reigen der bestehenden und feiernden Motykaner war diesmal jemand ganz besonderes: Beata. Man mag sich vorstellen, was sie hinterher gemacht hat. Mit allem Grund. Denn gleich danach geht es für sie zu einem Jahr Europäischen Freiwilligendienstes in Tschechien. Ich war eingeladen.
Jeszcze raz, jeszcze raz...
Auf die Mitteilung hin, man hätte schon um fünf angefangen zu feiern, verlasse ich fluchtartig das Büro in Richtung „Desperados“. Als Zeichen meiner Wertschätzung und Geschmacks bringe ich pani magister einen (wirklich schönen, in der Schrebergartenkolonie “General Sikorski” gekauften) Blumenstrauß und Aspirin. Pani magister sitzt bereits mit Freunden an der Theke, Wasser für die Blumen ist kein Problem, schließlich kennt man sich. Noch ist es ruhig, noch hat man Geduld, es mit mir auf Polnisch zu versuchen. Von den Freunden begleitet uns später nur eine zum „Zeppelin“ und auch die seilt sich auf dem langen Fußweg ab, um später wieder zu uns zu stoßen. So kommen wir nur zu zweit in diesem Pub nahe der Mickiewicza an, und auch dort ist niemand sonst. Mit Blick auf den Billardtisch erzähle ich einen Schwank „Damals ich in Leeds mit Dorota und den Slowaken...“ während wir uns die verbalen Finten um die Ohren hauen. Dazu treffen nach und nach Alicja und Magda und Matthias und Ariel und all die anderen Namen ein, die Euch ohnehin nichts sagen. Trotz alledem bleibt der Club leer und alle betrübt, denn man spielt traurige Musik am laufenden Band. Und dann gehen auch schon die ersten wieder, bis wir alle zurück ins Desperados fahren.
Toruner Nächte sind lang
Dort ist alles besser. Es wird richtig in die Saiten gegriffen und Beatas Freundin steht immer noch hinter der Theke und auf dem Nachbarhocker sitzt die Kellnerin aus meinem Lieblingsrestaurant und weint leise in die Schulter eines Freundes. Man kennt sich hier, der rustikale Pub ist klein und gehört zu den besten der Stadt. Die Stimmung steigt, die Mädchen tanzen. Mit der Temperatur des geschlossenen Raums erhöht sich die Lautstärke. Ich weiß nicht mehr, wann dann diese Lieder rausgeholt wurden. Um zwei kann es gewesen sein, da spielen polnische Songs aus den 60ern. Aus angenehmer Umnebelung staune ich glücklich auf die volle Tanzfläche, wo die schreienden Polen mit tiefster Inbrunst die nationalen Evergreens mitsingen. Ganz offensichtlich setzt diese Musik an einer gemeinsamen Gefühlsbasis an, in der ohnehin vertrauten Atmosphäre gibt es keinen Fremden mehr. Und in der rauschenden Nacht tanzen sie mit einer Anmut und einer Hingabe und einem Körpergefühl, dass man sich wünscht, einer von ihnen zu sein. Die Kneipe siedet, ich tanze mit meiner Kellnerin.
Ein Lied ist mir im Gedächtnis geblieben, „Warszawski Sen“ (Warschauer Traum) von Cheslaw Niemen, ein Song, bei dem der Pub den Höhepunkt zu erreichen schien. Später, nachdem mir Beata zwischen den Gläsern auf der Theke eine lange Liste mit polnischen Bands in meinen allzeit bereiten Notizblock geschrieben hat, scheint mir der Name dunkel bekannt. Ich weiß nichts über diese offensichtlich großen Sänger, aber ich erinnere mich wie meine Eltern mir erzählten, wie sie früher immer nach Polen fuhren, um die beste Musik zu bekommen. Nach und nach gehen Leute in die kalte Nacht, die dunkel vor der Tür steht. Halb fünf ist auch für mich Schluss, ich bestelle Wasser, Beata bestellt ein neues Bier. Ich stehe auf, um mich ordentlich zu verabschieden, denn ich werde sie nicht mehr sehen. Zwei Tage später fährt sie für ein Jahr nach Pilsen und ich bin etwas trauriger, als ich es sein sollte.
Die Nacht, die man in einem Rausch verbringt...
...bedeutet für mich wieder wertvolle Einblicke in das Selbstverständnis der Menschen. Noch in England habe ich den vergnüglichen kleinen „Xenophobe’s Guide to the Poles“ gelesen, in dem stand, was die Mode betrifft, hätten die Polen schon in den 60ern Paris Konkurrenz gemacht. Inzwischen habe ich Cheslaw Niemen gesehen, ein knallbunter Hippie, Schlagersänger, Liedermacher ohne Wenn und Aber. Seien wir mal ehrlich: der Kommunismus in den 60ern ist so ziemlich das letzte, wo wir bunte Popmusik erwarten. Und dann noch in Polen – da gibt es doch heute noch keine Musik. Vielleicht Farben, an Sonntagen. Ich erinnere mich, wie ich in Olsztyn auf dem Dachboden der Burg eine Ausstellung gesehen habe. Ein Bild von 1970 zeigte ein „Warschauer Cafe“. Ein heller, weiter Saal, an den Tischen saßen junge Frauen, dieselben die ich heute in Torun sehen kann, die Kleider und Haare wie der Regenbogen. Ja, in Farbe. Keine Propaganda. Ich ertappte meine Überraschung darüber, dass es so modern, mondän, lebhaft gewesen sein kann. 1970. Warschau.
Und was mich am meisten fasziniert ist die Reaktion, die diese Lieder auslösen.
Auf der Flucht
Hier bei Motyka bearbeiten wir so viele Europäische Freiwillige, die Hälfte meiner Kollegen hat den Dienst schon gemacht, oder steht kurz davor. Ständig liegen irgendwo Antragsseiten mit dem mir so bekannten Logo rum, kommen Leute gerade zurück, gehen Leute gerade weg, nach Deutschland, England, Frankreich, Estland, Tschechien... Auf der einen Seite ist das schön. Auf der anderen Seite natürlich nicht. Angesichts meiner eigenen Situation ist es absurd, aber wo Beata zu einem vollen, langen, glorreichen Jahr Europäischen Freiwilligendienstes fährt, fühle ich mich wie zurück geblieben, alt und langweilig.
Jetzt wo Beata weg ist und auch Ewa nicht da und ich allein in der Wohnung und übermüdet wie immer, passiert das gleiche, wie nach den ersten dieser rauschenden Nächte. Ich kann die Abende nicht mehr ruhig, allein verbringen und bleibe auf Teufel komm raus in den Kneipen, die ich ja jetzt kenne, bis ich müde genug bin, um vom Stuhl zu kippen.
Seasons in the sun
Entweder zum Trotz oder um es mir noch etwas schwerer zu machen, hat die Stadt noch einmal zum großen Gegenschlag ausgeholt. Die Sonne scheint wie wahnsinnig aus dem sich andeutenden Herbstblau des wolkenlosen Himmels, wie um ihre letzte Wärme zu verbrauchen, bevor sie nichts mehr ausrichten kann. Die Straßen schwärmen von Leuten in T-Shirts, in Geschäften schwitzt man. Spaziergänge am Fluss sind ein Traum. Man sitzt in den Cafés der großen Plätze im Licht und das Leben ist leicht; als wäre der Juli nie zu Ende gegangen.