To vote or not to vote?
Im Zuge der Landtagswahlen in Baden-Württemberg stellt sich mir die Frage, ob ich mein Stimmrecht wirklich nutzen sollte.
Am gestrigen Sonntag, der von den Medien den Spitznamen ‚Super Sunday‘ verpasst bekam, fanden in drei deutschen Bundesländern Landtagswahlen statt. Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt - und Baden-Württemberg, das Land, in dem ich aufgewachsen bin. Ich wohne aber seit September 2016 nicht mehr dort, weil ich ja für meinen EVS nach Dänemark gezogen bin. Wie die meisten anderen Freiwilligen (vermute ich zumindest), habe ich meine deutsche Adresse aber als Erstwohnsitz behalten, anstatt mich abzumelden.
Also behielt ich damit auch mein Wahlrecht auf Landtagsebene. Natürlich habe ich mir nicht groß Gedanken darüber gemacht, bevor ich gegangen bin; ich hatte bestenfalls vage im Kopf, dass im März des darauffolgenden Jahres Wahlen stattfinden würden. Als grundsätzlich politisch denkender Mensch war es eigentlich immer selbstverständlich für mich, in jeder Wahl meine Stimme abzugeben, in der ich dazu berechtigt bin. ‚Wer nicht wählt, darf sich hinterher auch nicht beschweren‘ ist ein Satz, den man von mir regelmäßig hören konnte.
Erst als ich ein paar Wochen, nachdem ich mich hier in Dänemark bei der ‚Kommune‘ angemeldet hatte, per Post eine Wahlbenachrichtigung zugeschickt bekam, fing ich an, konkret darüber nachzudenken. Es handelte sich dabei um einen Volksentscheid auf lokaler Ebene, und die Frage war, ob sich zwei Kommunen zusammenschließen sollten.
Mal abgesehen von der legalen Berechtigung, sollte ich wirklich teilnehmen an einer Abstimmung, über die ich nichts weiß, und die mich nur tangential betrifft, wenn überhaupt? Sollte das nicht, aus moralischer Sicht, denjenigen überlassen, die langfristig damit leben werden? Ich hatte zu diesem Zeitpunkt gerade ein paar Wochen dort gewohnt, und wusste, ich würde in ein paar Monaten nicht mehr hier sein. Letztendlich ging ich nicht wählen, was zugestandenermaßen weniger an diesen Bedenken lag, sondern eher damit zu tun hatte, dass ich damals noch kein Dänisch konnte und den Text in dem Brief nicht verstand. Trotzdem fühlte es sich falsch an, irgendwie.
Und was ist mit Wählen in einem Land, in dem man nicht mehr lebt? Ist das etwas anderes? Baden-Württemberg, das ist meine Heimat, könnte man argumentieren. Die ersten neunzehn Jahre meines Lebens habe ich größtenteils dort verbracht. Aber ich habe nicht vor, dorthin zurückzuziehen, auch nicht nach Ende meines Freiwilligendienstes. Natürlich werde ich auf Besuch heimfahren, aber wohnen werde ich dort in der absehbaren Zukunft nicht. Ich weiß nicht, ob ich in Deutschland studieren werde, aber ganz sicher nicht in Stuttgart. Sollte ich mich wirklich in regionalpolitische Belange einmischen?
Ich erinnere mich an ein Gespräch im Januar mit einer kroatischen Mitfreiwilligen über dieses Thema. Sie meinte damals zu mir, es störe sie, dass viele kroatische Emigranten ihr aktives Wahlrecht weiterhin wahrnehmen würden, obwohl sie seit Jahrzehnten im Ausland lebten und ein dementsprechend verzerrtes Bild der politischen Situation hätten. Bei einer Diaspora von etwa 260.000 Exilkroaten allein in Deutschland versus etwa 4.3 Millionen Einwohner Kroatiens macht das durchaus einen Unterschied. Ihr Standpunkt war, dass die politische Entscheidungsgewalt denjenigen zusteht, die die direkten Konsequenzen tragen. Fair enough. Trotzdem bin ich nicht ganz einverstanden. Im größeren Zusammenhang beeinflusst das Wahlergebnis eines Lokalparlaments auch die Bundespolitik, die wiederum eine Rolle auf Europaebene spielt, gerade jetzt in Anbetracht der Flüchtlingskrise. Meine einzelne Stimme gibt nicht den Ausschlag, das ist mir klar, aber ich fühle mich trotzdem verantwortlich.
Trotz meiner Zweifel entschied ich mich also, an der Wahl teilzunehmen. Die Zeit war zu knapp, um noch die Briefwahlunterlagen zu beantragen. Also habe ich die Vollmacht, die es meinen Eltern erlaubt, für mich abzustimmen, ausgefüllt und abgeschickt. Heute Morgen allerdings hat mir mein Vater über Skype mitgeteilt, dass es aufgrund bürokratischer Verwirrungen nicht funktioniert hat. Dann habe ich also doch nicht abgestimmt. Ich bin ein wenig enttäuscht, vor allem nach dem turbulenten Wahlergebnis von gestern Abend.
Ich denke, dass Wählen für Ausgewanderte eine delikate Angelegenheit darstellt. Letztendlich finde ich es gut, dass man das Wahlrecht behalten kann, aber man sollte zumindest darüber nachdenken, ob jedes legale Recht auf etwas unbedingt auch auf Biegen und Brechen wahrgenommen werden sollte. Im Großen und Ganzen bin ich damit einverstanden, dem Einzelnen die Entscheidung zu überlassen.