Tage wie diese – Septembermorgen
Was macht man in einem Zimmer ohne funktionierende Heizung und Drahtlosnetzverbindung? Jedenfalls nicht länger als nötig verweilen. Zudem man in einer einzigartigen Umgebung wie der schlafenden Berglandschaft Tschechiens gar nicht anders kann als einfach loszulaufen.
Es hätte so ein entspannter Morgen werden können. Nur eine Textpassage hätte ich streichen müssen und schon wäre mein Selbstbetrug niemandem aufgefallen. Das entschlossene Vorhaben, am heutigen Tage in der Frühe laufen zu gehen. Der Wecker ertönt und in meinem Kopf klingelt es. Der Vorsatz von gestern war sofort wieder da. Heute gäbe es keine Ausreden zum Abbruch. Erfahrung mit morgendlichen Sporteinheiten hatte ich schon. Doch es ist stets von neuem ein kleines Abenteuer. In meinem Zimmer herrschte nach der lauten Nacht sowohl diplomatische als auch tatsächliche Eiszeit. Werf in die Luft die zu kurze Decke und wünsch mir, dass ich eine funktionierende Heizung hätte.
Von meinen wenigen aus Deutschland mitgebrachten Sportkleidern kamen nun fast alle zum Einsatz. Erst ein Baumwollleibchen, darüber das lange Skiunterhemd. Dann die beiden Überzieher übereinander und eine Mütze auf den Kopf. Endlich kann ich auch meine erst letztens erworbenen Laufschuhe testen. In den Gängen war noch keiner. Ich ging in die Kälte hinaus. Und dieses Mal war diese noch um einiges kühler als in Vižňov. Dem eigenen Atem konnte man hinterherschauen, wie er als Nebel in der Luft verschwand. Die Hände wurden taub. Die eingeatmete Luft stößt einem ein Schwert in die Lunge. Nicht lange nachdenken, sondern los. Erst geht es den Berg hinab. An der Straße muss ich mich dann entscheiden. Zwanzig Minuten hatte ich eingeplant. Ob Olešnice ein zu hoch gestecktes Ziel ist? Wenn ich es nicht versuche, werde ich es nie wissen. In solchen Momenten denke ich, wie ich wohl auf die Situation zurückblicken werde. Ob ich stolz auf jemanden, der ich mal war, wäre, der sich stets für den kürzeren Weg entscheidet. Der Blitz sucht den kürzesten Weg, ich nicht. Auf ins nächste Dorf. Zwei Kilometer Landstraße liegen vor mir. Die Natur scheint ebenso noch zu schlafen. Still ist es. Autos? Fehlanzeige. Alle paar Minuten mal ein einsamer Škoda, dabei bleibt’s. Rechts der Straße verläuft ein kleiner Bach. Das Haus auf der rechten Seite verbindet eine Brücke mit der Straße. Kalter Kohlerauch ist schon von weitem zu riechen. Man raucht nicht und wird von den anderen vergiftet, ohne es zu wollen. Langsam dahinscheidend, während wir leben. Wie ein Schleier hat er sich auf die kalte Erde gelegt und zeugt davon, dass auch hier, im tschechischen Niemandsland, noch Leben da ist. Links im Wald passiert nicht viel. Erst, als er sich öffnet, sieht man wieder Interessantes. Ein Sporthotel befindet sich im unbewaldeten Gebiet nebst der Straße links. Zwei riesig erscheinende Tennisplätze. An diesem frühen Morgen bin ich selbstverständlich trotzdem der einzige, der hier draußen umherläuft. Nur das sonore Summen des Transformators nebst der Stromleitung vermittelt wieder Leben. Zwei Schilder weisen auf eine Fahrradroute hin. Eine davon geht nach Adršpach. Sie erinnern sich? 51 Kilometer wären es. Mit dem Fahrrad in zwei Stunden gut zu schaffen. Es schließt sich der Kreis, auch für mich. Vertrautes ist so nah. Am Ende hängt alles irgendwie zusammen. Für heute muss ich mit Olešnice vorliebnehmen. Nach dem Sporthotel geht es wieder steil bergauf, während meine Kondition stark abfällt. Ich muss gehen, kann nicht weiterlaufen. Die Kälte hat es geschafft, mir sämtliche Kräfte zu rauben, die Nase zu verstopfen und die Bronchien pochen zu lassen. Wenn ich solche ausweglose Phasen habe, sage ich mir immer: „Ab dem nächsten Baum läufst du weiter.“ So geschah es. Eine Birke war es. Körper ignorieren und weiter. Nun ist auch die erste Steigung genommen. Nur noch leicht geht es den Berg hinauf, was mir ehrlich gesagt sogar lieber ist als bergab zu hasten.
Der bisherige Weg verlief bis auf das Hotel nur durch Wald. Erst jetzt sieht man langsam die Sonne durchblitzen. Nach einer Weile ist er dann völlig weg. Stattdessen hat man rechts nun landwirtschaftliche Nutzflächen. Auf dem letzten Stück, bevor Olešnice beginnt, stehen und liegen braune Weidekühe. Scheinbar eine besondere Art. Alle die gleiche Farbe, manche mit langen Hörnern, aber keine Bullen. Davon gibt es nur einen. Der liegt wie viele der anderen Kühe am Boden. Nur ein paar Kühe stehen. Und selbst diese drehen sich nicht um. Nur eine Kuh blickt kurz auf, als sie etwas Ungewöhnliches sieht. Den ganzen Tag kommen hauptsächlich Autos und Traktoren vorbei. Nun zur Abwechslung mal ein Mensch. Offenbar interessant.
Nun kam auch schon das Ortsschild. Endlich war mein Ziel erreicht. Es war ein unnötig hoher Aufwand. Wie sonst auch. Erst aus Größenwahn kann Großes erwachsen. Die halben Sachen überlässt man den anderen. Und solange mein Körper diese Schnapsideen mitmacht, werde ich nicht damit aufhören.
Mein eigentlicher Plan war, direkt nach dem Ortsschild wieder umzukehren. Einmal Olešnice grüßen und wieder zurück. Was ich jedoch auf der Anhöhe vor mir sah, ließ mich auch diese zusätzliche Anstrengung voll aushalten. Ausgangspunkt war der Rand einer Wiese, von welchem man einen weiten Blick auf die eben genannte Wiese, die Bäume im Hintergrund und die Hügel hatte. Wie eine Bettdecke lag noch der Nebel auf dem Areal. In direkter Blickrichtung nach vorne ging gerade die Sonne auf. Durch die Bäume in der Ferne schien das Morgenlicht. Dabei zeichneten sich die einzelnen Strahlen ab. Das Nebelmeer war dabei in ständiger Bewegung. Die Verwirbelungen an der Stelle, wo die Wiese in die Straße übergeht, sehen aus wie kleine Sonnenstürme. Dabei jedoch grazil. Elegant schreitend wie eine Figur. Eine denkbar poetische Aura. War es dieser Ort, der Eduard Mörike zu seinem Gedicht inspirierte?
Im Nebel ruhet noch die Welt,
noch träumen Wald und Wiesen;
bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
den blauen Himmel unverstellt,
herbstkräftig die gedämpfte Welt
in warmem Golde fließen.
Eduard Mörike (1827)
Nachdem ich dem Nebelmeer beim Wandern zugeschaut habe, treibt mich die sportliche Inbrunst wieder zurück. Gern würde ich noch länger hier verweilen, doch soll man dann aufhören, wenn es am schönsten ist. Schöner als jetzt kann es kaum noch werden. Also drehe ich mich um, blicke links, rechts, nicht aber nochmal nach hinten, und renne Richtung Rzy. Es geht beinahe nur noch bergab. Wie von alleine finden die Füße ihren Weg. Schwerer werden sie, doch schwer sind sie noch lange nicht. Dazu ist der Tag noch zu jung. Erstaunlich früh stehe ich schon wieder an der Kreuzung, schaue mehr aus Gewohnheit, nicht Sinnhaftigkeit, ob Autos kommen. Selbstverständlich kommen keine. Links geht es weg von der Hauptstraße, dann nochmal eine steile Schotterstraße hinauf, um dann schließlich wieder vor dem Haus zu stehen. Völlig außer Atem ziehe ich die Schuhe ordnungsgemäß aus, lockere die Schnürsenkel fürs nächste Mal und gehe in mein Zimmer. Kalt ist es noch immer, doch könnte es mir wärmer nicht sein. Alle Kleiderschichten reiße ich mir vom Leib, bis nur noch das Leibchen und die Hose verbleiben. Dann ab in die Dusche. Das abwechselnd kalte und heiße Nass meinen Körper umspülen lassen, bis man sich besser fühlt. Aus der Dusche entkommen und mit neuen Kleidern gehe ich zum Frühstück. Keiner hat mich gesehen, keiner weiß von meinem Morgenlauf, keiner wird davon erfahren. Ich setze mich, schaue aus dem Fenster nach draußen. Sehe eine Welt, in welcher sich mein Blick ebenso verliert wie die Nebelschwaden im Wind.