Tage wie diese – Böhmische Dörfer
Im Rahmen der großen Fahrradtour kamen wir an einer Kirche vorbei. Sie war nicht besonders prächtig oder groß. Beeindruckend, aber nicht aufgrund genannter Attribute. Eindrucksvoll, aber nicht aufgrund von Stuck, eines vergoldeten Altars oder meisterhaften Malereien. Stattdessen ist es die Geschichte des Ortes, die in dessen Zerstörung erst richtig immanent wurde.
Die römisch-katholische Kirche heißt „Kostel svatého Matouše“. „Kirche St. Matthäus“ auf Deutsch. Sie gehört zum Dorf Jedlová v Orlických horách (Tannwald im Adlergebirge). Zudem ist sie ein Kulturdenkmal, wobei es ehrlich gesagt nicht mehr viel zu schützen gibt. Nach der Vertreibung der Deutschen verfiel sie und wurde 1958 geschlossen. Nach 1989 wurde sie rekonstruiert und ist seitdem wieder öffentlich zugänglich.
Das alles wusste ich noch nicht, als ich mit der Gruppe an dieser Kirche Halt machte. Die Lehrer erklärten den Kindern die Geschichte des Ortes auf Tschechisch. Ich schnappte nur ein paar wenige Wörter auf: „Deutsche“, „Sudeten“ und „Hitler“. Fallen solche Worte, wird man als Deutscher schnell nervös. Nach und nach wurde mir klar, um was es wohl gehen musste. Als ich die Grabsteine sah, die deutschen Inschriften lesen konnte, die Jahreszahlen studierte und den Vandalismus begutachtete.
In jahrelangem Geschichtsunterricht an einem deutschen Gymnasium wurde die Thematik der Sudetendeutschen nicht behandelt. Die französische Revolution kennt man zur Genüge, in der Oberstufe dann der zweite Weltkrieg. Die Leute, mit denen man darüber reden könnte, sterben stetig weg. Das klingt hart, ist aber traurige Realität. Mit jedem Menschen gehen Geschichten verloren. Man kann Geschichtsbücher wälzen, doch nie wird das wahre Grauen so fassbar wie in den Erzählungen, in denen es, von einem melancholischen Lächeln begleitet, das all den erfahrenen Schrecken zu überdecken versucht, leise hörbar wird. In einer Welt voller Wohlstand, Sicherheit und Frieden wirken diese Schilderungen unwirklich. Wie aus einem Film, dabei ist noch kein Jahrhundert seitdem vergangen.
Von welcher Zeit sprechen wir? Es war eine Ära, geprägt von Krieg, Verderben und Schrecken – Begriffe, die uns heute nur noch durch das Papier der Zeitung oder das Glas des Bildschirms von manchen Ecken der Welt erreichen. In der Ostukraine, in Syrien oder in Afghanistan, doch nicht bei uns tobt es. Weder bei Ihnen in Deutschland, noch bei mir in Tschechien. Jedenfalls nicht mehr hier. Vor gar nicht allzu langer Zeit war das noch anders.
Neulich sprach ich mit einer Zeitzeugin darüber. Sinngemäß lautete eine der Aussagen: „Erst, wenn auch der letzte Mensch aus dieser Zeit gestorben ist, wird es möglich sein, fernab aller Vorurteile einen gemeinsamen Dialog zu finden.“ In diesem Satz liegt eine trügerische Ambiguität. Mit manchen Menschen wird sich leider keine zielführende Konversation mehr führen lassen. Glücklicherweise sind solche Fälle jedoch eine Ausnahme. Was in der Mehrzahl verloren geht, sind die Geschichten von früher und das nirgends niedergeschriebene Wissen, das die Leute mit ins Grab mitnehmen. Vielleicht haben sie es noch jemandem erzählt, doch mit der Zeit werden auch diese Aussagen immer mehr verwässern und aufgrund der Unvollkommenheit des menschlichen Gedächtnisses schwelend verschwinden.
Das wenige Wissen, das ich zu diesem Thema zusammengetragen habe, soll als zugleich interessanter wie mahnender Einblick in die von deutschen Lehrplänen verbannte Geschichte dienen.
Je mehr ich mit den Tschechen zu tun hatte, desto mehr fragte ich mich, was es mit den Sudetendeutschen auf sich haben könnte. In Tschechien ist in der Vergangenheit so viel passiert, dass man nie wissen kann, auf welchen historischen Umstand sich ein Tscheche gerade bezieht, wenn er mit dir spricht. Es kommen wohl viele Dinge zusammen und man muss lernen, damit umzugehen. Nicht immer bleiben die Argumente sachlich. Das ist zwar unlauter, jedoch verständlich und die Folge einer schwierigen Beziehung.
Wenn man Deutschland und Tschechien heute auf einer Karte betrachtet, sieht es aus wie ein Kopf, der versucht, einen übergroßen Hähnchenschlegel zu verschlingen. Diese Metapher ist durchaus auf den Expansionswahn im Dritten Reich übertragbar. Bis zum Ende des ersten Weltkriegs gehörte das Gebiet, das wir heute Tschechien nennen, zu Österreich-Ungarn. Danach wurde die Tschechoslowakei unabhängig und sicherte sich auch gleich das hauptsächlich deutsch besiedelte Sudetenland. Dieses muss man sich vorstellen wie einen Mantel, der an der heute deutsch-tschechischen Grenze auf tschechischer Seite bis halb nach Prag reicht. Richtig integriert wurden die Deutschen nicht. Zwar saßen sie im Parlament, doch wurde ihnen kein Autonomiestatus gewährt. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933 erlebte die Sudetendeutsche Partei (SdP), nicht zu verwechseln mit der SPD oder der SDP, einer Musikgruppe aus Berlin, einen Aufschwung. Fünf Jahre später waren dann Europas diplomatische Bemühungen auf einem historischen Tiefpunkt. Österreich war bereits seit März annektiert, am 24. April wurde in Zusammenarbeit mit Hitler seitens der Sudetendeutschen Partei das Karlsbader Programm verabschiedet, das in der Folge die Zerschlagung des tschechoslowakischen Staates bedeutet hätte. Auf beiden Seiten wuchs der Unmut, was für Hitlers Expansionspolitik Wasser auf die Mühlen war. Am 20. Mai rüstete sich die Tschechoslowakei in der Erwartung eines deutschen Angriffs. Hitler hatte das jedoch noch gar nicht im Sinn und ließ erst am 30. Mai die Wehrmacht für den 1. Oktober in Bereitschaft versetzen. Großbritannien blickte ängstlich auf den sich anbahnenden Konflikt. Deutschland sicherte jedoch zu, dass das Sudetenland die letzte territoriale Forderung sei. Es war wie mit einem Kind, das darum bittet, „nur noch eine Folge“ im Fernsehen ansehen zu dürfen. Man weiß als Erziehungsberechtigter bereits, dass es dabei nicht bleiben wird und versucht, zu vermitteln, gibt aber schlussendlich nach, weil man eben doch nicht konsequent genug ist. Auch der englische Premier Arthur Neville Chamberlain versuchte es im Guten. Nach zwei Sichtungen akzeptierte er erstaunlicherweise recht zeitnah die geforderte Abtretung. Hitler wollte trotzdem eine militärische Lösung, um unter anderem auch eine Volksabstimmung zur Staatsangehörigkeit durchführen zu lassen. Tschechien – die Krim für Deutschland? Die Briten wollten Krieg jedoch um jeden Preis vermeiden und zur Vermittlung rief Hermann Göring den italienischen Diktator Benito Mussolini hinzu. Er, Chamberlain, Hitler und der französische Premierminister Edouard Daladier trafen sich deshalb am 29. September in München. Vertreter der Tschechoslowakei oder der Sowjetunion waren nicht eingeladen. Sie mussten sich fühlen wie die Deutschen nach dem Friedensvertrag von Versailles, der unter anderem auch von der Tschechoslowakei unterzeichnet wurde. Im folgenreichen Münchner Abkommen wurde die Abtretung der geforderten Gebiete an das Deutsche Reich geregelt. Man setzte sich über die Tschechoslowakei hinweg und behandelte sie wie einen Selbstbedienungsladen. Ironischerweise dachte Chamberlain, er hätte mit diesem Schritt den Frieden gesichert. Zwar bestand er auf die Weiterexistenz des tschechoslowakischen Staates, doch war das eben der maximale Kompromiss, den er mit Hitler finden konnte. Dieser war nämlich gar nicht so zufrieden, wie man das nach so einer Entscheidung erwarten könnte. Er hätte eine kriegerische Lösung für besser befunden, während das deutsche Volk gegen einen solchen Schritt war. Das nutzte Hitler wiederum geschickt aus, um sich selbst als den Verhinderer des Krieges hinzustellen, was ihm seitens der Bevölkerung gesteigerten Zuspruch einbrachte.
Nun wurde erst einmal das Protektorat Böhmen und Mähren geschaffen, eine Verwaltungseinheit, die von den Deutschen kontrolliert wurde. Man hatte sich also mehr einverleibt als vorgesehen war und wieder fleißig annektiert. Hitler sprach dabei von der „Zerschlagung der Rest-Tschechei“. Für die tschechoslowakische Bevölkerung war es eine unschöne Zeit. Das Attentat auf Reinhard Heydrich machte das kaum besser, da drastische Vergeltungstaten folgten. Zwei Tschechoslowaken, Jozef Gabčík und Jan Kubiš, töteten damals den stellvertretenden Reichsprotektor Böhmens und Mährens und Leiter des Reichssicherheitshauptamts, Reinhard Heydrich, was zum Massaker von Lidice führte. Der Auftrag zum Attentat kam von der tschechoslowakischen Exilregierung, weswegen man auf deutscher Seite umso verärgerter war. Es kam zu Massenerschießungen der Zivilbevölkerung. Ein paar Jahre später werden die Rollen umgekehrt sein.
Für die Deutschen, die sich auf Staatsgebiet aufhielten, das die Tschechoslowakei als das ihrige betrachtete, wurde es nach dem Krieg zunehmend ungemütlich. Es kam zur Ausgrenzung und Verachtung jeglicher Deutschen. Die Vertreibung der Deutschen war wohl das deutlichste Zeichen dieser Unerwünschtheit. Folgen des Krieges wurden auf die deutschsprachige Bevölkerung übertragen und eine Verurteilung auf diese umgewälzt, was sich nicht selten in blutigen Hinrichtungen äußerte. Eine der bedeutendsten war jene in Bořislavka. Deutsche und Deutschsprechende, unter anderem ethnische Schweden, aus Hanspaulka wurden zusammengetrieben. Sie stellten sich in einer Reihe nebeneinander auf und standen mit dem Rücken zu den Schützen. Dann wurden sie nacheinander erschossen. Als alle Menschen tot am Boden lagen, fuhr ein Militärfahrzeug über die Leichen. Der tschechische Historiker Tomáš Staněk sagte, dass sich in der Steigerung der Gewalt das brutale Vorgehen der Waffen-SS widerspiegele. Mithilfe von Inseraten in Zeitungen wurde damals nach filmischen Aufzeichnungen der Massenerschießung gesucht. Jiří Dvořáček, der damals gefilmt hatte, vermutete hinter dem Inserat jedoch die tschechoslowakischen Behörden, die nicht wollten, dass die Bevölkerung „ihre Helden zu sehen“ bekommt, „wie sie nach dem Ende des Krieges ihre Waffen nehmen und Zivilisten erschießen.“ Statt die kollektive Lynchjustiz aufzuhalten, bestärkte Staatspräsident Edvard Beneš die Menschen noch darin, weiterhin drastisch gegen die Deutschen vorzugehen. Er sagte: „Und wir müssen vor allem die Deutschen aus den böhmischen Landen (...) kompromisslos wegliquidieren.“ Tomáš Staněk rechnet mit einer undurchdachten Formulierung und verweist darauf, dass Beneš eigentlich gemeint hätte, das Problem oder die Frage wegzuliquidieren, sodass nicht der Eindruck entstehe, es handele sich um einen Aufruf zu Gewalttaten. Staněk denkt nicht, dass Beneš einen Aufruf zum Mord bezweckte, gibt aber zu verstehen, dass es möglich ist, dass die Rede von manchen Leuten missverstanden wurde.
Neben solchen fast schon Nebenschauplätzen der Vertreibung gab es auch Exempel wie den Brünner Todesmarsch. Am 31. Mai 1945 wurde begonnen, etwa 27.000 Deutsche von Brünn über Pohrlitz nach Niederösterreich zu bringen. Da die jungen Männer zum großen Teil in Kriegsgefangenschaft oder in Lagern interniert waren, bestand die Gruppe hauptsächlich aus Frauen und Kindern, mitunter Säuglingen. Aufgrund von Nahrungs- und Wassermangel überlebten viele den Weg nicht. Als an der österreichischen Grenze der Übertritt verwehrt wurde, kamen die Menschen in Lagerhallen, wo sie von Hunger und Seuchen heimgesucht wurden, was zum Tod vieler Menschen führte. Erst nach langem Zögern öffnete das damals sowjetisch besetzte Niederösterreich die Grenze. Viele der schwachen und unterernährten Opfer starben in Österreich. Aufgrund der Brisanz des Themas gibt es zwischen den Schätzungen der Opferzahlen große Disparitäten. Tschechien gab wenige hundert Opfer an, während man heute mehrheitlich davon ausgeht, dass es etwa 5.200 waren. Doch auch den Überlebenden ging es nicht gerade blendend. Schließlich war ihnen in Tschechien das Eigentum genommen worden. Mit den wenigen Habseligkeiten, von denen Schmuck durch die Soldaten auch noch konfisziert wurde, mussten sie sich im Nachkriegsdeutschland wieder eine Existenz aufbauen.
So erging es 3.000.0000 Deutschen, die zwischen 1945 und 1946 aus der Tschechoslowakei vertrieben wurden. Einen großen Teil davon machten die Sudetendeutschen aus, allerdings lebten auch viele Deutsche in Städten wie Prag oder Brünn. Die Spuren deutscher Vergangenheit in Tschechien lassen sich jedoch auf dem Land vermehrt finden. Man meint, am tschechischsten Ort Tschechiens angekommen zu sein, wo mit Kohle geheizt wird, wo man vergeblich auf eine zweisprachige Wanderkarte hoffen kann und wo selbstverständlich nur Tschechisch gesprochen wird. Und dann gelangt man plötzlich an so einen Ort wie diese Kirche und stellt fest, dass das Dorf seit über einem Jahrhundert und noch bis vor wenigen Jahrzehnten überwiegend deutsch gewesen sein muss. Man fragt sich natürlich, was aus diesen Leuten geworden ist, ob sie es nach Deutschland geschafft haben. Eine kleine Tafel, die an einem Kreuz neben der Kirche befestigt ist, lässt Positives erahnen. Dort steht nämlich, dass es von ehemaligen deutschen Einwohnern gespendet worden sei. Es muss also noch Hinterbliebene geben, die ebenfalls erkannt haben, wie wichtig es ist, sich der Geschichte bewusst zu werden.
Auf beiden Seiten waren damals erhebliche Verluste zu verzeichnen. Erst kamen die Deutschen und bauten in den Jahren der Unterdrückung einen Hass in der Bevölkerung auf, der sich nach dem Krieg endgültig entlud. Für die Tschechen ist der Umgang damit heute ebenso schwierig wie für die Deutschen. Das Thema ist immer noch präsent, es beherrscht vielleicht nicht den Alltag, aber gerade in der Historie mancher Menschen hat es eine große Rolle gespielt. Da die Verbrechen fast zeitgleich mit dem Krieg einhergingen, ist eine ähnliche Erinnerungskultur wie in Deutschland zu sehen. Wenn ich auch mit Erwachsenen zusammenarbeite – sie selbst haben diese Zeit nicht mehr erlebt. Sie sind wie auch ich auf die Geschichten Anderer und die Dokumente aus dieser Zeit angewiesen.
Zu Beginn meiner Recherche empfand ich die ganze Sache noch als recht diffus. Es war wie ein Weg durch ein Labyrinth und verlässliche Informationen waren schwer zu finden, da beide Seiten ein Interesse hatten, die Zahlen zu verändern. Und selbst, wenn man diese Randfakten hat, so erschließt sich einem nicht, wie es tatsächlich war, wie man sich die Stimmung vorstellen muss oder wie geringfügige Kleinigkeiten als Anekdoten den Alltag zehnmal besser charakterisieren, als es ein Text je könnte, der trocken aussagt, welche Umstände vorherrschten, ohne es zu schaffen, den Zeitgeist zu übertragen.
Man kommt um das persönliche Gespräch nicht herum. Wenngleich es unangenehm ist, gerade die tragischen Kapitel der Geschichte anzusprechen, so ist es nunmal der einzig zielführende Weg. Um es aus erster Hand zu erfahren, bat ich eine Tschechin, mir näher zu erläutern, wie man sich das allgemeine Meinungsbild der Tschechen über die Sudetendeutschen vorzustellen hat. Zwar ist sie keine Zeitzeugin, sondern zum Zeitpunkt des Gesprächs erst 27 Jahre alt, aber vielleicht gerade deshalb eine gute Wahl, ein guter Zwischenschritt zwischen den unwissenden Jugendlichen auf der einen Seite und den erfahrenen Zeitzeugen auf der anderen Seite. Sie kam zu interessanten Einsichten und konnte die Kontroversität, die in der Bevölkerung vorherrschend ist, gut darlegen.
Als erstes bemerkte sie, dass selbst in der letzten Debatte um die Präsidentschaftswahl das Thema noch aufgegriffen wurde. In Tschechien wurde 2013 ein neuer Präsident gewählt. Es handelte sich um die erste Direktwahl eines Präsidenten in Tschechien. Bis dahin wurde er vom Abgeordnetenhaus und dem Senat gewählt. Der öffentliche Diskurs war aus diesem Grund erhöht. Die Favoriten waren Karel Schwarzenberg und Miloš Zeman. Da im ersten Wahlgang am 11. und 12. Januar keine absolute Mehrheit erreicht werden konnte, wurde am 25. und 26. Januar ein zweiter Wahlgang durchgeführt. Anfangs waren die Stimmen noch fast gleich verteilt. Schwarzenberg kam auf 23,40 Prozent, Zeman auf 24,21 Prozent. Daraufhin fiel die Entscheidung im zweiten Wahlgang zwischen diesen zwei Kandidaten. Vor dem zweiten Wahlgang wurde die Thematik der Sudetendeutschen aufgegriffen. Schwarzenberg sagte, dass die Vertreibung aus heutiger Sicht ein großes Menschenrechtsverbrechen gewesen sei und zudem die Hintermänner der Beneš-Dekrete heutzutage wahrscheinlich vor dem Haager Kriegsverbrechertribunal stünden würden. Daraufhin wurde er als „Sprecher der Sudetendeutschen“ bezeichnet. Er sei kein richtiger Tscheche und würde womöglich Rückgabeforderungen der Sudetendeutschen stattgeben. Alles zwar recht realitätsfern, aber das sei in der tschechischen Politik nichts Ungewöhnliches, wie mir ein anderer Tscheche sagte. Er verglich sie mit einem Zirkus. Diese These wird dadurch untermauert, dass sich die Öffentlichkeit darüber echauffierte, dass Schwarzenbergs österreichische Ehefrau kein Tschechisch spräche. Trotz Korruptionsaffären und dem Verdacht der Vetternwirtschaft gewann Miloš Zeman die Wahl.
Meine tschechische Gesprächspartnerin erwähnte zudem, dass „die eine Seite“ den Leuten immer noch weismachen wolle, dass „die Deutschen wiederkommen“ würden. Die Abneigung der Tschechen würde gezielt genutzt, um sich politisch zu profilieren. So sagte Miloš Zeman lange vor der Präsidentschaftswahl, dass die Sudetendeutschen „Hitlers fünfte Kolonne“ gewesen seien, woraufhin der damalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder seinen Besuch in Prag absagte. Darüber hinaus war Zeman der Meinung, die Tschechoslowakei habe den Sudetendeutschen einen Gefallen getan, indem sie sie „heim ins Reich“ schickte. Die Vertreibung sei außerdem „moderater“ als die Todesstrafe gewesen. Bei der Präsidentschaftswahl nannte er seinen Mitbewerber Schwarzenberg einen „Sudeťák“ (Sudeten), um ihn zu diskreditieren.
Ihr Ehemann käme aus Ostrava, einem früher von Deutschen besiedelten Gebiet, daher auch der deutsche Nachname. Ostrava ist ein Gebiet, das vor allem von der Schwerindustrie lebte. Im Grunde hätten erst die deutschen Investitionen dazu geführt, die Umgebung wirtschaftlich aufblühen zu lassen. Daher waren die Deutschen dort hoch angesehen und die Bevölkerung stand der Deportation kritisch gegenüber.
Allerdings sei das nicht in allen Landesteilen so gewesen. In Nordböhmen verfügte die deutsche Bevölkerung nicht über bedeutend viel Geld, weshalb sie dort auch nicht so hoch angesehen waren. Vorbehalte gegen die Vertreibung seitens der Tschechen seien deshalb nicht so hoch wie etwa in Ostrava gewesen.
Der frei gewordene Wohnraum in den ehemals deutsch besiedelten Gebieten wurde genutzt, um dort Tschechen unterzubringen. Von denen sei aber keiner glücklich geworden, da mit den Deutschen oft auch der Wohlstand ging und keine funktionierende Wirtschaft mehr gegeben war. Auch den Tschechen blieb „das bittere Schweigen der abwesenden Menschen“ nicht verborgen. Die Stadt Reichenberg (tschechisch: Liberec) hat dazu ein Projekt ins Leben gerufen, das sich der Erinnerung gewidmet hat. Hiervon stammt auch das Zitat. Unter folgender Adresse können Sie das Projekt erreichen: http://zivapamet-liberec.cz/de/o-projektu.html
Die Stadt Brünn bedauert mittlerweile offiziell den Brünner Todesmarsch und veranstaltet sogar Gedenkmärsche, von Pohrlitz nach Brünn, also den umgekehrten Weg, um an das Geschehene zu erinnern. Meine Gesprächspartnerin erzählt mir, dass ihre 80-jährige Tante leugne, dass es den Brünner Todesmarsch je gegeben habe. Diese Meinung sei zwar unpopulär, doch es gäbe auch noch Propagandafilme im Fernsehen, die aussagen, dass so ein Marsch nie stattgefunden habe, sagt sie.
Zu guter Letzt merkt sie an, dass man, je nachdem, von welchen Regierungen oder Staaten man beeinflusst wurde, Haltungen entwickle, die sich kaum ändern würden. Ein großartiges Schlusswort, leben wir doch ganz offiziell im postfaktischen Zeitalter. Gefühle sind wichtiger als Fakten geworden. Ängste werden geschürt, Tatsachen ignoriert – und das leider im gesamten politischen Spektrum. Was kann man noch glauben und was muss man als Humbug abtun? Meinungen sind derart festgefahren, dass wir drohen, wie die 80-jährige Tante zu enden, die, überzeugt von ihrer Unfehlbarkeit, heutzutage Erwiesenes leugnet, als könne man mit der simplen Geste des Verschweigens, der Abweisung und des Bestreitens der Taten eine Auseinandersetzung mit dem Grauen der Vergangenheit umgehen.
Man macht sich selten bewusst, wie viel doch geschehen ist und meidet die Nachforschung, weil man in etwa das Ausmaß erahnt, das einem bevorsteht. Es gleicht der Suche nach der Nadel im Heuhaufen, unter unzähligen unseriösen Quellen, die politisch geprägten Scheininformationen von den tatsächlichen unterscheiden zu können. Spricht man direkt mit jemandem, bekommt man immer nur eine Momentaufnahme der Gefühle, wenn man Glück hat eine persönliche Geschichte, doch es ist einem unmöglich, das Gehörte in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen, wenn man diesen nicht kennt. Erst, wenn die Begriffe geklärt sind, wenn man langsam die Prozesse auf beiden Seiten nachvollziehen kann, erst dann ergeben die Aussagen plötzlich einen Sinn. Eine völlig demolierte Kirche ist dann keine Absurdität in der sonst schön hergerichteten tschechischen Provinz mehr, sondern das Produkt einer durchtriebenen Geschichte. Alles erscheint in einem anderen Licht, wenn man weiß, was hinter manchen Dingen steckt. Heute sind die Fronten glücklicherweise nicht mehr ganz so verhärtet. Ausnahmen gibt es, doch sind auf der anderen Seite Projekte wie das in Reichenau oder die Bemühungen der Stadt Brünn positiv hervorzuheben, die, statt die Erinnerung zu scheuen, sich der Vergangenheit bewusst sind, ohne die Nachkriegsgeneration mit moralischen Schuldgefühlen belasten zu wollen. Es lebt sich leichter, wenn man weiß, was geschehen ist, warum manche Leute so denken, wie sie denken und inwiefern man das Vergangene auf die Gegenwart auslegen kann, um gemeinsam mit den heute guten Freunden, den Tschechen, einer rosigen Zukunft entgegenblicken zu können.