Spuren im Schnee - Abirede (22.Juni 2007)
"Wenn du aufwärts gehst und dich hochaufatmend umsiehst, was du doch für ein feiner Kerl bist, der solche Höhen erklimmen kann, du, ganz allein - dann entdeckst du immer Spuren im Schnee. Es ist schon einer vor dir da gewesen." Mit diesen Zeilen beginnt Kurt Tucholsky seinen Aufsatz...
Liebe Abiturienten, liebe Lehrer, liebe Eltern, liebe Gäste
"Wenn du aufwärts gehst und dich hochaufatmend umsiehst, was du doch für ein feiner Kerl bist, der solche Höhen erklimmen kann, du, ganz allein - dann entdeckst du immer Spuren im Schnee. Es ist schon einer vor dir da gewesen." Mit diesen Zeilen beginnt Kurt Tucholsky seinen Aufsatz "Es gibt keinen Neuschnee", den er 1931 für die Zeitung "Weltbühne" verfasste. Er resümiert darin den aussichtslosen Kampf, individuelle und neue Wege zu gehen. Weiter heißt es: "Und immer sind da Spuren, und immer ist einer da gewesen, und immer ist einer höher geklettert als du es je gekonnt hast, noch viel höher."
Es ist also schon jemand da gewesen? Alles, was wir von jetzt an, von diesem Zeitpunkt unserer ultimativen Befreiung, dem Ende unserer Schulzeit, anfangen und anpacken, gab es schon mal? Alle Gedanken, die wir denken wollen; alle Heldentaten, die wir vollbringen wollen; alle Entdeckungen und Erfindungen, die wir der Welt anvertrauen wollen; alle Gefühle, die wir fühlen wollen - all das gab's schon?
Alles das, was uns als Neuschnee erscheint, ist in Wirklichkeit nur der Firnis der letzten Generation, in deren eingelaufenen Wegen wir wandern? Alles was wir suchen - altbekannt und alles umsonst?
Normalerweise glauben wir solch cleveren und intelligenten Menschen wie Kurt Tucholsky. Solchen Menschen, die schon länger hier sind als wir. Solchen Menschen, die unsere Mentoren, unsere Vorbilder und unsere Maßstäbe sind. Normalerweise glauben wir, was man uns erzählt, was in Büchern steht, was im Internet und im Fernsehen zu sehen ist. Weil es, um die Begründung des einen oder anderen Lehrers aufzunehmen, "einfach so ist". Normalerweise folgen wir solchen Menschen, denen wir vertrauen in dem, was sie uns an Weisheiten mit auf den Weg des Lebens, mit auf die große Wanderung geben. Solchen Menschen, unseren Vätern und unseren Müttern. Unseren großen Brüdern und unseren großen Schwestern. Normalerweise.
Aber was ist, wenn sie sich täuschen, all diese cleveren Menschen? Was, wenn Tucholsky einfach nur die Südflanke hochgewandert ist? Auf dem Trampelpfad entlang? Was, wenn er nur den einfacheren und auf den ersten Blick ersichtlichen Weg gewählt hat? Die falsche Weggabelung genommen? Was, wenn er sich nur um ein paar Grad nördlicher, in reinem weichweißen frischgefallenen Neuschnee befunden hätte? Was, wenn man ihn und seine Erklärung in Frage stellt? Ja, was, wäre wenn?
Dann müssten wir ran, nicht wahr? Müssten uns doch selbst überzeugen. Müssten selbst den Berg raufschau'n und den Weg wagen, um nachzugucken, ob es da doch was gibt. Neuschnee vielleicht?
Was, wenn ich jetzt behaupte, dass es gar nicht wichtig ist, was die cleveren Menschen, die vor uns da waren, sagen. Letztendlich spielen nämlich ihre Erfahrungen, ihre Erklärungen für uns, für euch keine Rolle. Denn sie tragen nicht euren Rucksack, tragen nicht die Konsequenzen eures Handelns und können nicht mehr die Verantwortung eurer Routenplanung übernehmen. Sie leben nicht euer Leben. Sie können nicht euren Weg gehen. Das könnt nur ihr!
Darum müssen wir ran! Müssen wir selbst schauen, müssen hinterfragen. Und jeden Tag aufs Neue unser eigene Nische finden, unseren Weg gehen. Die cleveren Menschen und ihre wohl- und gutgemeinten Ratschläge durch den Filter unsere Wahrnehmung laufen lassen und auf die Probe stellen und unseren ganz persönlichen Anapurna -Pass erklimmen.
Sicher, das, was wir dort finden, kann uns enttäuschen. Am Ende sind da vielleicht doch nur Tucholskys prophezeite Spuren und unsere Entdeckung ist schon vorher gemacht. Kein Neuschnee. Aber schlimmer wäre es doch, sich einfach mit die alten Erklärungen abzufinden und es gar nicht erst selbst zu versuchen, oder?
Vielleicht können wir aber doch auf die Worte eines anderen cleveren Menschen vertrauen. Rio Reiser prägt einmal die Parole: „Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Wie, wenn ohne Liebe? Wer, wenn nicht wir?"
Und getreu dieser Aufforderung, selbst nachzuschauen, was es gibt und wie das, was da draußen ist, aussieht, will ich euch anfeuern und alles Gute wünschen. Auf das euer Leben in immer höhere und unbekanntere Gegenden führt. Und auf das alle eure Wünsche, all eure Träume ein Gipfelkreuz als Andenken bekommen.
Herzlichen Glückwunsch zur Aufforderung, lebenslang zu entdecken und lebenslang zu hinterfragen und alles Gute zum bestandenen Abitur 2007!
©kruenkernchen_eva-maria_niedermeier
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