Schule in Ungarn
Zwar wird mein Einblick in das ungarische Schulsystem dadurch beschränkt, dass ich erstens kaum Ungarisch spreche, eigentlich nur im Deutsch- und Englischunterricht aushelfe und abgesehen davon auch nur in zwei Grundschulen tätig bin, wodurch ich die verschiedenen Schulen kaum miteinander vergleichen kann - dennoch möchte ich im folgenden auf ein paar Schwierigkeiten und Probleme des Schulsystems in Ungarn eingehen.
Ich hatte eigentlich nie das Gefühl, dass Schulen in Ungarn viel schlechter sind, als in Deutschland. Trotzdem habe ich in der Vorbereitung einiger Schüler für den sprachlichen Teil ihrer sogenannten „Kompetenzprüfung“ am Ende der achten Klasse beim Sprechthema „Schule“ im gemeinsamen Gespräch eine Sache bemerkt: viele der Schüler dachten eher negativ über ihre Schule, deren Ausstattung, manche Lehrer, usw. Das hat mich etwas überrascht in Anbetracht der Tatsache, dass sie eine Grundschule besuchen, in der die meisten Säle mit Smartboards und einem Computer ausgestattet sind.
Wieso also sehen sich viele ungarische Schüler an meinen Schulen in einer eher negativen Situation? Dass sie damit übrigens nicht allein sind, zeigt ein Teil der sogenannten PISA-Studie, nämlich die Rubrik „life satisfaction among 15 year olds“, auf Deutsch „die Lebenszufriedenheit unter den 15-Jährigen“ europaweit. Ungarn liegt hier mit etwa 70 % vier Plätze unterhalb des Durchschnittswertes. Außerdem zeigt eine Umfrage der ungarischen Kinderdörfer, dass „70% der Kinder in Ungarn […] existentielle Ängste vor ihrer Zukunft“ hätten. Davon seien „81% der Kinder, die aus Familien kommen, die sich selbst als „arm“ einschätzen“ und „73% derjenigen, die glauben, sie kommen aus materiell durchschnittlich ausgestatteten Familien“, betroffen. Weiterhin habe „die Hälfte der befragten Schüler […] „sehr große Angst“ […], nicht zu einem Studium zugelassen zu werden, jedes dritte Kind [habe] „Angst in der Schule zu versagen““.
Diese Angst beeinflusst viele Schüler, manche positiv, viele meiner Erfahrung nach negativ. Die starken Schüler schaffen es, dem Druck Stand zu halten und sehen ihn als Ansporn, viele können das allerdings nicht und leiden darunter. Sie spüren vielleicht, dass sie nicht mitkommen, oder denken, dass es in ihrem Land sowieso keine Zukunftschancen gibt. Generell habe ich hier oft das Gefühl, dass das ungarische Volk – auch aufgrund seiner Geschichte - eher negativ bzw. pessimistisch eingestellt ist. Manche fühlen sich sogar als Verlierer oder Abgehängte innerhalb Europas. Viele Kinder übernehmen diese negative Einstellung der eigenen Eltern und generell der Erwachsenen und älteren Leuten. Darunter leidet schließlich vor allem eins: ihre Motivation.
Natürlich ist das sehr verallgemeinert ausgedrückt und es gibt durchaus einige Schülerinnen und Schüler, – wobei ich sagen würde überwiegend Schülerinnen - die sehr fleißig und diszipliniert sind, doch das erlebe ich leider nicht bei allen so. Jetzt lässt sich als Gegenargument zwar einwerfen, dass das in jedem anderen Land in Europa wohl ähnlich ist, allerdings sprechen die letzten PISA-Ergebnisse aus dem Jahr 2014 für sich. Demnach haben sich die Ergebnisse ungarischer Schüler im Vergleich zur letzten Studie 2011 stark verschlechtert. Denn „in Ungarn wurden im Bereich Textverständnis sechs Punkte weniger, in Naturwissenschaften neun Punkte weniger und in Mathematik dreizehn Punkte weniger erreicht als vor drei Jahren“. Somit liegt das Land gleichzeitig klar unter dem europäischen Durchschnitt.
Doch ist die fehlende Motivation das einzige Problem? Und woher kommt sie überhaupt?
Laut einem Dossier, das die Universität in Kassel im Jahre 2014 erstellte, bestehe „einer der Gründe für die schlechten PISA-Ergebnisse [in der] mangelnde[n] familiäre[n] Unterstützung der Schülerinnen und Schüler.“ Dieses Argument kann ich aus meiner Erfahrung heraus leider bestätigen. Ich arbeite an einer Grundschule in einem kleinen Dorf und an einer Grundschule in einer der Tourismushochburgen Ungarns direkt am Balaton. Dort haben die meisten Familien offensichtlich mehr Geld, viele Eltern haben eine Zeit lang im Ausland gearbeitet und dort gut verdient. Sie geben ihren Kindern eine ganz andere Einstellung zur Schule mit, da sie wissen, dass harte Arbeit sich meist auszahlt. Im Dorf hingegen gibt es viele Kinder, die aus sozial schwächeren Familien kommen, teilweise haben die Eltern einen Hang zum Alkohol, manchmal verdienen sie nicht genug. Diese Kinder werden mit einer negativeren Einstellung erzogen, sie fühlen sich viel öfter auf der Verliererseite und ab einem gewissen Alter tendieren sie schlichtweg schneller zur Resignation. Auch an einer Schule in Somlóvásárhely, einem kleinen Dorf etwa eine halbe Stunde von Nagyvázsony entfernt, wurde uns das Motivationsproblem bestätigt, als wir vor kurzem zu einem eintägigen Besuch eingeladen wurden. Manche Kinder hätten zuhause weder Elektrizität noch fließendes Wasser, erklärte uns die Direktorin, und in Extremfällen hätten die Kinder eine höhere Bildung als die eigenen Eltern, die diese die Schule z. T. nicht beenden konnten. Auch das sind Einzelfälle, aber sie erklären die Gesamtsituation und die weit verbreitete Resignation, die aus dem Gefühl der Hilfslosigkeit entsteht.
Des Weiteren wird die Motivation der Schüler meiner Meinung nach sehr stark vom Klassenklima bzw. der allgemeinen Motivation der Klasse und gleichzeitig von der Unterrichtsgestaltung des Lehrers ab. Wenn es in einer Klasse unter gewissen Schülern als cool gilt, etwas zu rebellieren, die Hausaufgaben nicht zu machen, nicht aufzupassen, zu lachen, wenn man vor die Tür gehen muss, etc. so überträgt sich das schnell auf alle Schüler. Wenn die fehlende Motivation oder Null-Bock-Stimmung im Vordergrund steht, entstehen dadurch Lücken, die später irgendwann kaum noch aufzuholen sind. Diese Lücken kreieren einen Teufelskreis, da sie weitere Resignation fördern und den nachfolgenden Lehrern große Schwierigkeiten bereiten. Natürlich sollte ein Lehrer, der mit einer solchen Klasse arbeitet, trotz allem in der Lage sein, seine Schüler für den Unterrichtsstoff zu motivieren, doch das ist zugegebenermaßen schwierig und ermüdend, wenn manche Schüler nicht einmal ansatzweise Interesse oder wenigstens Respekt zeigen.
Ich habe Lehrer kennen gelernt, denen es tatsächlich gelingt, alles aus ihren Schülern herauszuholen, die sie loben und unterstützen, die mit ihnen auf Wettbewerbe fahren, die sie fördern und fordern und die zur selben Zeit ihre Erwartungen bei den schwächeren Schülern anpassen und ihnen so das Gefühl geben, nicht zurückgelassen zu werden. Doch mir wurde gesagt, dass leider nach wie vor die wenigsten Lehrer so arbeiten. Das liegt auch daran, dass die Bezahlung der Lehrer in Ungarn mit etwa 8000€ bis etwas über 10000€ jährlich je nach Sekundarstufe – im Vergleich dazu verdient ein Lehrer in Deutschland im Durchschnitt etwa zwischen 40000€ und 55000€ pro Jahr und damit das fünffache – sehr schlecht ist. Das zeigt, dass dieser unfassbar wichtigen Arbeit leider noch immer nicht genügend Respekt und Anerkennung gezollt wird. Natürlich ist es schwierig, Deutschland und Ungarn in Bezug auf Löhne und Gehälter zu vergleichen, da die Lebenshaltungskosten total unterschiedlich sind, dennoch wird meiner Meinung nach deutlich, worauf ich hinausmöchte.
Generell seien die Ergebnisse der PISA-Studie laut der ungarischen Politikerin Rózsa Hoffmann auch „ein Indiz für die Reformbedürftigkeit im Bereich der öffentlichen Bildung“. Dem würde ich so größtenteils zustimmen, doch natürlich ist nicht alles schlecht: Es gibt viele Programme, Projekte, AGs, Wettbewerbe und Ausflüge. Viele Lehrerinnen und Lehrer geben sich sehr viel Mühe in ihrer Unterrichtsgestaltung und viele Schülerinnen und Schüler arbeiten sehr hart, um ihren Zielen jeden Tag ein Stückchen näher zu kommen.
Ein besonders interessantes Beispiel möchte ich zum Schluss noch kurz vorstellen, da ich es sehr besonders und nützlich finde: Die Kinder an der Schule in Somlóvásárhely können dort in einem kleinen Shop mit „virtuellem Geld“, dem sogenannten „Somlóvé“ – das ist ein Wortspiel, das sich aus dem Ortsnamen und dem Wort „lóvé“, also „Geld“, zusammensetzt – bezahlen. Das virtuelle Geld hängt von ihren Leistungen in der Schule ab. Wer sich also gut benimmt, dem wird das positiv angerechnet und umgekehrt. So erhalten Kinder ohne familiären Rückhalt und finanzielle Unterstützung die Möglichkeit, sich bei gutem Benehmen ihre Hefte, Kleider oder auch gewisse Nahrungsmittel selbst zu kaufen und können sich gleichzeitig auf die Schule konzentrieren, da sie dafür keinen Nebenjob annehmen müssen. Meiner Meinung nach lernt man so, dass sich Leistung im wahren Leben auszahlt, egal welchen kulturellen Hintergrund man hat.
Quellen:
http://www.pesterlloyd.net/html/1707kinderangst.html
https://www.unikassel.de/einrichtungen/fileadmin/datas/einrichtungen/owwz/MOE/Dossiers2014/Ungarn_01_2014.pdf
https://www.lehrerfreund.de/schule/1s/lehrer-gehaelter-europa-vergleich/4008
http://www.oecd.org/pisa/PISA-in-Focus-No-71-Are-students-happy.pdf