Ruhe, Schnee und Leichtigkeit im Großen Kaukasus
Qusar, die kleine Stadt im nördlichen Aserbaidschan an der Grenze zu Dagestan. So unscheinbar auf der Karte, aber so traumartig in meinen Erinnerungen.
Während ich nach fast neun Monaten endlich wieder meine Reisesachen zusammen suche und abwäge, was ich wirklich davon für ein verlängertes Wochenende in Venedig brauche, fällt mir mein kleines Reisetagebuch aus Aserbaidschan und Georgien in die Hände. Ich fange an zu blättern und da sind sie: die schönen, lustigen oder auch aufregenden Erinnerungen. Und ich stelle fest, dass einige von ihnen noch auf meinem Blog fehlen. Zugegeben, es ist jetzt schon ein bisschen her, aber was ändert das schon? Und ich glaube auch nicht, dass sich so schnell etwas im Kaukasus geändert hat, dass meine Erzählungen nicht mehr aktuell sind. Und selbst wenn, für mich sind sie immer noch sehr aktuell. Zum Beispiel jeden Tag, wenn ich meine Wollhausschuhe anziehe. Ich muss sie nur anschauen und bin direkt wieder in Qusar, dem kleinem Ort im Norden Aserbaidschans an der Grenze zu Dagestan wo sowohl meine Schwester als auch ich ein paar der selbst gefertigten Haussocken erstanden haben.
Und selbst ihre Löcher, die sie im Laufe der Monate bekommen haben, und die Befürchtung, dass sie nicht mehr lange mitmachen werden, verhindern nicht, dass ich die großen Berge des Kaukasus sehe. Und den Schnee knistern höre unter den Winterschuhen, die ich mir, überrascht vom Wintereinbruch im April, ausgeliehen hatte und die mir ein wenig zu groß sind. Ich rieche gefüllte Paprikaschoten, die die Tochter des Hauses, in dem wir übernachten, gerade auf den Tisch stellt. Ich sehe das Lachen der Gastmutter über meinen verdutzten Gesichtsausdruck, als sie mir rohe Brennnessel zum Essen anbietet. Und ich erinnere mich an das Brennen auf meinem Handrücken, als meine Schwester beweisen wollte, dass diese Art von Brennnessel wohl nicht zu Hautirritationen führt. Nun, die Wette haben wir wohl verloren. Oder zumindest ich.
In meinen Ohren klingt das Rennsteiglied nach, das meine Schwester und ich im Auto auf dem Weg von Qusar ins Bergdörfchen Laza zum Besten gegeben haben, weil das Radio im Lada kaputt war. Der Fahrer, der seine Stirn in Falten legt, um abzuwägen, ob wir es im Schnee und Matsch bis ins Dörfchen schaffen, ist so deutlich und wirklich wie in dem Moment, als ich ihn beobachtete. Wie er seine Mütze vom Kopf nahm und sich mit der Hand über die Haare strich. Und ein Funke der Erleichterung in seinen Augen, als wir ihm versichern, dass wir mehr als glücklich sind, wenn wir einfach an Ort und Stelle parken und im Schnee mitten im Großen Kaukasus spazieren gehen und den Anblick genießen können.
Über all meinen Erinnungen an Qusar schwebt ein Lächeln. Das Lächeln einer Frau in der Marschrutka, die mich freundlich anschaut und sich mit mir freut. Einfach so. Dieses Lächeln überstrahlte alle finsteren Blicke in anderen Orten. Es hieß uns Willkommen. Das wäre nur ein Beweis dafür, dass die Menschen in Qusar etwas komisch seien, sollten Freunde später meine Erfahrung kommentieren. Denn die Menschen in Qusar sind "keine richtigen Aserbaidschaner", sie sind Lesgier. Sie haben ihre eigene Sprache und eigene Traditionen, wie ihren berühmten Tanz Lezginka. (Einige von euch kennen den Tanz vielleicht bereits von meinen Tanzversuchen. So sieht der Tanz in professionell aus und so sollte er bei uns Hobbytänzern aussehen.) Die eine Hälfte der rund 800.000 Lesgier lebt in Dagestan, die andere Hälfte in Aserbaidschan. Und obowhl die aserbaidschanische Regierung Geld in Schulen und Straßen in den lesginischen Gemeinden steckt, sind die Lesgier doch stark einem Assimilationsdruck ausgesetzt. Mir war das persönlich gar nicht so bewusst, bis ich meine aserbaidschanischen Freunde habe reden hören. (Wer sich mehr für die Lage der Minderheiten in Aserbaidschan interessiert, dem empfehle ich diesen Artikel: Aserbaidschans ethnische Minderheiten - Ignoriert mit System.)
Qusar. So unscheinbar auf der Karte, aber so traumhaft in meinen Erinnerungen. So entspannt. So lebensfroh. Ich höre unser Lachen im Wald bei einer Schneeballschlacht zwischen meiner Schwester, einem Freiwilligen aus Amerika und mir. Auch das Lachen der Mutter des Hauses und sogar das glückliche Schnurren, der Katze, die eigentlich nicht zum Haus gehörte aber immer zu Besuch kam, klingt noch nach. Fast ist es wie ein Traum, aus dem man gerade erwacht ist und der sich für einen flüchtigen Augenblick ganz real anfühlt. Ist es wirklich schon ein Jahr?
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Fun Fact: Ich habe jetzt auch einen Blog, in dem es weniger um Reisen und mehr um Alltag und Diskussionen geht. Schaut gerne vorbei und diskutiert mit mir über aktuelle Themen: rantsandkisses.wordpress.com