“Radical acts of kindness” oder wie ich Solidarität in Ungarn gefunden habe
“Solidarität ist Abgeben“, meinte meine Tante, „Abgeben an die, die weniger haben.“
Positiv ist sie, ganz klar. Man setzt sich für andere ein. „Aber nur da, wo es für einen selbst keine große Arbeit ist zu helfen“, sagte mein Kumpel.
Als ich begann herumzufragen, was unter „Solidarität“ verstanden wird, wurde schnell deutlich, dass zwar jeder schon von ihr gehört hat, aber kaum jemand eine genaue Definition liefern kann. Der Grund dafür ist vermutlich, dass sich wenige wirklich Gedanken darüber gemacht haben, wann man davon sprechen kann. Wenn ich im Zug aufstehe, um Platz für eine alte Frau zu machen, ist das dann bereits solidarisches Verhalten?
Wo hört Hilfsbereitschaft auf und wo fängt Solidarität an? Was sollen und können wir wirklich tun, wenn man von der heutigen Jugend mehr Solidarität fordert?
In der Flüchtlingsproblematik oder auch in der zunehmenden Unterdrückung der Reporter in der Türkei wird immer wieder bekräftigt, wie wichtig Solidarität ist. Besonders im Rahmen des politischen Lebens taucht dieser abstrakte Begriff unzählige Male auf und scheint somit notwendig zu sein. Aber können wir nicht schon in unserem unmittelbaren Umfeld anfangen solidarisch zu sein?
“Radical acts of kindness” verspricht die Debrecen Bike Maffia und beschreibt damit ihr Prinzip der Solidarität. Sie macht mir deutlich, dass ich Solidarität auch ganz in meiner Nähe ausüben kann. Jeden Samstag treffen sich dort junge Freiwillige aus vielen Ländern, um zusammen zu kochen und diese Mahlzeiten anschließend mit Fahrrädern an Obdachlose zu verteilen. Die, denen es besser geht, setzen sich ein für die, denen es schlechter geht. Klingt das nicht nach einem Paradebeispiel der Solidarität?
Wenn man den Duden fragt, definiert er diese so: „Sie ist unbedingtes Zusammenhalten mit jemandem aufgrund gleicher Anschauungen und Ziele“. So kann man sie auslegen. Im Kern. Doch um sie in ihrer Komplexität zu begreifen, kann man es kaum bei so einem kurzen Satz belassen. Einen Platz in der Bahn an einen älteren Menschen abzugeben ist sicher nur simple Hilfsbereitschaft. Solidarität ist mehr!
Nach der Definition des Dudens zeigt sich die Solidarität allein in der Tatsache, dass die Bike Maffia eine Gruppe von Menschen ist, die fest zusammenhalten, um das Leben für Obdachlose besser zu machen. Doch hier zählen besonders die Unterstützung und der Einsatz für Schwächere. Solidarität zu zeigen ist dabei gar nicht so schwierig, denn sie bedeutet nicht, ein Wunder vollbringen zu müssen. Oft reichen schon unterstützende Worte und gegenseitiger Beistand. Sie ist ein freundliches, mitfühlendes Gespräch und ein gut gekochtes Essen.
Als der Journalist Deniz Yücel nach langer Zeit aus der Einzelhaft wegen „angeblicher „Terrorpropaganda“ in der Türkei entlassen wurde bedankte er sich bei allen, die zu ihm gestanden hatten mit den Worten: „Die Solidarität hat mir Kraft gegeben“. Es waren nicht Geld oder Sachspenden, die ihm durch diese schwere Zeit geholfen haben, sondern der starke Rückhalt von anderen, der ihm zeigte, dass er nicht alleine ist! Ein ganz besonders wertvolles Geschenk.
So reicht den Obdachlosen, die wir mit der Bike Maffia besuchen, ein Essen pro Woche nicht aus, um zu überleben, aber es kann ihnen Freude bereiten und Kraft schenken, weil sie sehen, dass wir zu ihnen stehen. Wir sind auf ihrer Seite, während der ungarische Staat sie vor kurzer Zeit unter Strafe von den Straßen verbannte. Die kurzen Gespräche nehmen sie dann genauso dankbar entgegen wie das Essen. Sie erzählen gerne ihre Lebensgeschichten. Wir geben ihnen die Chance dazu und Aufmerksamkeit. So können sie schon Kraft sammeln, bevor sie überhaupt die warme Mahlzeit genossen haben.
Solidarität kann für uns ganz einfach sein, aber für andere Großartiges bewirken. Wenn wir z.B. in unserer Gemeinde einmal in der Woche helfen, Flüchtlingen die Integration zu erleichtern, ist das schon eine Leistung!Damit kommen wir zu einem anderen Thema, das mir in Ungarn immer wieder begegnet. Hier wird viel zu wenig für Flüchtlinge getan. Grund dafür ist hauptsächlich die Regierung, die sich völlig dagegen stellt, Flüchtlinge aufzunehmen und ihre Ziele zu unterstützen.
Als Ungarn 2015 einen Zaun gegen Flüchtlinge baute, forderte der Präsident Viktor Orbán zwei Jahre später Solidarität und bat andere Länder der EU um finanzielle Unterstützung. Aber kann Ungarn Solidarität fordern, während es zugleich alle solidarischen Beschlüsse der EU den Flüchtlingen gegenüber mit Füßen tritt? Dass sich die EU-Länder nun quer stellten und ihren Beschlüssen treu blieben, ist richtig. „Solidarität ist keine Einbahnstraße“, hat der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker damals dazu gesagt! Die EU ist eine Solidaritätsgemeinschaft. Darum können einzelne Länder nicht immer nur Unterstützung fordern, sondern müssen auch tatkräftig die Entscheidungen der EU unterstützen.
Wer sich Solidarität wünscht, sollte auch selber welche zeigen! Und wie bereits erwähnt, ist das gar nicht so schwer und jeder ist in der Lage dazu. Solidarität ist nur ein Wort, man kann es aber mit Leben füllen, wenn man handelt. Solidarität kann man nicht erzwingen. Sie muss aus eigenem Antrieb entstehen, dann kann man Großartiges erreichen.
Also mache dich am besten gleich selbst auf die Suche nach einer Möglichkeit, dich für etwas einzusetzen! Erkenne wo dies nötig ist. Sei derjenige, der Unterstützung gibt und Kraft schenkt! Dadurch können alle nur gewinnen. Und denke immer daran: Auch du wirst sicher einmal Menschen brauchen, die dir solidarisch zur Seite stehen.
Ich freue mich auf viel mehr gelebte Solidarität in unsere Welt:)
Quellen
https://www.hessenschau.de/kultur/buchmesse/buchmesse--yuecel-solidaritaet-hat-mir-kraft-gegeben-,buchmesse-ticker-freitag-102.html
https://www.deutschlandfunk.de/ungarn-und-die-eu-solidaritaet-ist-keine-einbahnstrasse.694.de.html?dram:article_id=394876
https://www.duden.de/rechtschreibung/Solidaritaet
http://kozossegek.atalakulo.hu/debrecen-bike-maffia