Quo vadis, Kosovo? IV
Die jüngste Demokratie der Welt blickt auf eine ungewisse Zukunft: Streitigkeiten mit dem serbischen Nachbarn lähmen den politischen Alltag, junge Kosovaren zieht es in Scharen Richtung Westeuropa, nach den Parlamentswahlen sprechen die Wahlsieger offen vom Anschluss an Albanien. Über einen kleinen Staat im Herzen des Balkans, welcher immer noch weltweit von 79 anderen Ländern nicht anerkannt wird, sich lieber heute als morgen mit der EU-Mitgliedschaft auszeichnen wollen würde und zu einem Risikofaktor für die gesamte Region erwachsen könnte.
Kosovos Mann der Stunde steht in dieser Februarnacht umringt von US-amerikanischen und albanischen Flaggen auf dem zentralen Skanderbeg-Platz im Herzen Prištinas; betrachtet man nachträglich die Aufnahmen jenes historischen Moments, fallen vor allem die jungen Gesichter auf, die sich um ihren zukünftigen Premierminister Albin Kurti versammelten und unter lebendiger Siegesfreude seinen Worten folgten. Trotz aller Diffamierungen und Versuchen, seine Person mit wüsten Beschimpfungen als politischen Kontrahenten auszuschalten, kann sich Kurti nun vor seinen Anhängern als Sieger der vorgezogenen Parlamentswahlen präsentieren. Seine Versprechen, gegen die korrupten Machenschaften der Herrschaftselite anzukämpfen, zwangen das jahrelang unter fragwürdigen Umständen regierende Kabinett der alten UÇK-Kommandeure in die Knie; vordergründig junge Kosovaren schenkten ihm das Vertrauen, die junge Republik aus der staatlichen Sackgasse zu führen.
Mit seiner Biografie aus 15-jähriger Gefängnisverurteilung in Serbien während des Krieges, seines friedlichen Widerstands statt der Waffengewalt der UÇK zu folgen und einer völlig überzogenen Verhaftung durch Eulex-Einheiten nach mehreren Demonstrationen gegen die UN-Mission, ist Albin Kurti zum Vorbild der jungen, linken Szene geworden und verkörpert momentan den Wunsch einer ganzen Generation nach Aufbruch wie kein Zweiter. Wer ist dieser kämpferische Politiker, der wegen seines aufrührerischen Verstandes regelmäßig die Opposition befeuerte? Und was kann die so stark gebeutelte Republik im Herzen des Balkans von ihm erwarten?
Dunkle Vergangenheit, dunkle Zukunft?
Ob sich das aufgeheizte Klima des politischen Alltags auf kosovarischem Boden abkühlt, wird sich vor allem am Auftreten des neuen Premierministers und seiner neu gebildeten Regierungskoalition zeigen. Albin Kurtis Versprechen im Wahlkampf, die unter den Nachfolgeparteien der UÇK florierende Korruption und Vetternwirtschaft im Lande zu bekämpfen, erwies sich jedenfalls als erfolgversprechend und brachte den beiden bisher größten Oppositionsparteien im Parlament die meisten Wählerstimmen ein. Will sich Priština jedoch weiter in Richtung Brüssel bewegen, schweben immer noch die Streitigkeiten mit dem serbischen Nachbarn wie eine dunkle Wolke über dem kleinen Staat. So stellte Kurti zwar einerseits vor zwei Wochen in Aussicht, die lähmenden Strafzölle gegen Serbien schrittweise aufzuheben, präsentierte er sich jedoch samt seiner Partei „Vetëvendosje“ (Selbstbestimmung) in der Vergangenheit als nationalistischer Hardliner. Die Abstimmung im März 2018, ob ein erneuertes Grenzabkommen mit Montenegro in Kraft treten solle, beantwortete die Opposition mit mehreren Tränengasgranaten im Parlament. Die Übergabe von 82 Quadratkilometern Grenzland im Zuge des Abkommens, welches von der EU als wichtige Vorbedingung der europäischen Integration Kosovos ausgerufen wurde, stellte für Vetëvendosje einen unverzeihlichen Verrat an der Heimat dar - selbst auf die Gefahr hin, die anfänglichen Fortschritte mit Brüssel einzufrieren.
"Ob sich das aufgeheizte Klima des politischen Alltags im Kosovo abkühlt, wird sich am Auftreten Albin Kurtis zeigen"
Fragen, wie sich das Kosovo unter dem neuen Premierminister entwickeln wird, bleiben somit noch offen. Seit Januar diesem Jahres haben sich Serbien und Kosovo geeinigt, erstmals seit 20 Jahren wieder direkte Flugverbindungen zwischen den Hauptstädten Belgrad und Priština einzuführen, was gleichzeitig den eingefrorenen Dialog zwischen beiden Seiten wieder beleben könnte. Statt der sechsstündigen Autofahrt würden beide Städte nun in 25 Minuten erreichbar sein. Das sollte jedoch nur der erste Schritt zur Normalisierung sein. Die direkten Verbindungen über Land sind nach wie vor in einem desolaten Zustand; will man so von Priština ins serbische Niš fahren (Luftlinie ungefähr 94 Kilometer), misst der schnellste Weg immer noch fast 300 Kilometer über das nord-mazedonische Skopje. Nach wie vor hitzig gestaltet sich dagegen die Gründung einer eigenen kosovarischen Armee, was Serbiens Präsident Vučić bereits als seinen „schlimmsten Albtraum“ bezeichnete und die Beziehungen längerfristig wieder um mehrere Schritte zurückwerfen könnte. Trotz aller Gegensätze wissen die Regierungen auf beiden Seiten sehr wohl, dass es ohne gutnachbarliche Beziehungen keine Aussicht auf einen baldigen EU-Beitritt geben kann.
Das sollte auch Albin Kurti in seinem Vorhaben, die gegenwärtige Lage des Kosovo zu refomieren, im Hinterkopf behalten. Von vielen Kosovaren wird der Premierminister in diesen Tagen als Modernisierer gefeiert, der sich offen gegen die führende politische Elite sowie gegen die korrupten „Kolonialherren“ der internationalen Gemeinschaft ausspricht; Gegner hingegen sehen in ihm einen radikalen Sturkopf, der eine Gefahr für die Friedensordnung auf dem Balkan darstellt. Fakt ist, dass Kurti die kosovarische Verfassung leidenschaftlich kritisiert, wenngleich sie doch dem Kosovo einen Zusammenschluss mit dem großen, albanischen Bruder verbietet. Fakt ist jedoch auch, dass derartige Grenzverschiebungen und Machtspiele auf dem westlichen Balkan einen Stein ins Rollen bringen könnten, an dessen Ende andere Staaten motiviert werden, eigene Landesgrenzen zu verschieben und entlang ethnischer Linien voneinander neu zu definieren. Schon in der Vergangenheit offenbarte sich die explosive Wirkung des Kosovo-Konfliktes für Nachbarstaaten: 2000 wurde das südserbische Preševo-Tal von schweren Kämpfen der UÇK überschattet, nur ein Jahr später führte der Export des großalbanischen Nationalismus zum Bürgerkrieg in Nord-Mazedonien.
"Trotz aller Gegensätze wissen die Regierungen in Belgrad und Priština sehr wohl, dass es ohne gutnachbarliche Beziehungen keine Aussicht auf einen baldigen EU-Beitritt geben kann"
Umso wichtiger wird es deshalb in naher Zukunft auch sein, neue Ansätze zu durchdenken und Konsequenzen aus der dunklen Vergangenheit zu ziehen. Denn Reformen sind bitter nötig, trotz aller geflossenen Gelder in Milliardenhöhe spüren die Kosovaren kaum Verbesserung. Die Unzufriedenheit nährt einen noch gefährlicheren Faktor, der andere Sorgen mit sich bringt. In der alltäglichen Gemengelage aus beruflicher Perspektivlosigkeit für die junge Bevölkerung, der grassierenden Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Hoffnungslosigkeit findet die Gefahr islamistisch-fundamentalistischer Radikalisierung einen nahrhaften Boden. Während der Hochphase des sogenannten Islamischen Staates zählten die Polizeibehörden 2016 rund 314 Kosovaren, die sich den Terroristen in Syrien und im Irak anschlossen. In keinem anderen Staat Europas ist die Pro-Kopf-Dichte an Rekrutierten derart hoch wie im Kosovo, hinzukommt noch das verstärkte finanzielle Engagement Saudi-Arabiens, welches sich weniger auf den Ausbau der so benötigten maroden Infrastruktur oder neuer Schulen als viel mehr auf die Eröffnung prächtiger Moscheen unter saudischem Einfluss konzentriert. In den kargen Landstrichen Kosovos, die sich bislang eher durch eine gemäßigte Auslegung des Islam kennzeichneten, überragen nun weiß getünchte Minarette die Umgebung und bilden mit ihren wahhabitischen Lehren den verlängerten Arm des saudischen Salafismus.
Die Zeit untätig verstreichen zu lassen, um verpassten Chancen nachzutrauern oder sich über die gegenwärtige Misere zu beklagen, sind daher genauso unangebracht wie sich ernüchtert dem Schicksal hinzugeben. Was das Land auf dem Weg nach Europa jetzt vorantreiben kann, sind nachhaltige und vor allem glaubwürdige Reformen. So stellen sich Reisen ins Ausland immer noch als eine kaum überwindbare Hürde für Kosovaren dar, was auch keinem Wunder gleichkommt, ist das Kosovo doch der letzte Staat Europas, dessen Einwohner nicht ohne Touristenvisum in den Schengen-Raum einreisen dürfen. Erster Ansatz der europäischen Staaten während der jährlich stattfindenden (und jährlich ohne konkrete Ergebnisse endenden) Westbalkan-Konferenz sollte daher die Erweiterung der Visafreiheit auch für die kleine Balkanrepublik sein; immerhin geht um nichts weniger, als den enttäuschten Menschen mit der Reisefreiheit ein selbstverständliches Grundrecht zuzugestehen, die dauerhafte Isolation des Kosovo zu durchbrechen.
Warum denn nicht endlich auch die zaghaften Ideen hinsichtlich eines Beschäftigungspaktes mit der EU neues Leben einhauchen und so versuchen, die kosovarische Misere zu durchbrechen? Ohne jeden Zweifel wird der Strom an Hoffnungslosen, die ihr neues Glück in westeuropäischen Gefilden suchen, keineswegs in den kommenden Jahren schlagartig abreißen. Vielmehr sollte es im Interesse Brüssels stehen, will man nicht die Balkanstaaten und insbesondere das Kosovo ausbluten lassen, eine zukunftsweisende Motivation für Arbeitskräfte zu schaffen, ohne dass jene überstürzt und ohne Ausbildung ihre Heimat verlassen und schließlich im Niedriglohnsektor der Aufnahmeländer landen. Anstatt Milliarden in gescheiterten Auslandsmissionen zu verheizen, könnten so europäische Fördergelder in weitreichende Reformen der Berufsausbildung fließen - gut ausgebildeten und potenziellen Arbeitsmigranten kämen größere Chancen zu, sowohl in der Diaspora als auch in der Heimat dem angestrebten Beruf nachzugehen. Neben einer Stärkung des Arbeitsmarktes würde auch das ökonomische Wachstum belebt, machen doch Überweisungen der Exil-Kosovaren in die Heimat zugleich die wesentliche Antriebskraft der Wirtschaft aus und decken 17% des jährlichen Bruttoinlandsprodukts.
Quo vadis, Kosovo?
Trotz aller negativen Höhepunkte der vergangenen Jahre ist das Kosovo weder von traumatischen Kriegsspuren gebeutelt noch am Rande des staatlichen Zusammenbruchs wie uns die Situation in Syrien belehrt. Auf den Straßen und Märkten pulsiert das Leben, in der lebendigen Hauptstadt Priština sitzen vordergründig junge Menschen in den Cafés, verleihen dem Straßenbild einen europäischen Charakter, immer mehr Touristen drängen sich durch die schmalen, osmanischen Gassen von Prizren, bereits 2018 setzte „Lonely Planet“ die kosovarische Republik auf die Liste der zehn sehenswertesten Ziele in Europa. Seit 2002 zieht das international renommierte „Dokufest“ im Trubel der Altstadt Prizrens jeden August tausende Interessierte an, nächsten Sommer könnte die kosovarische Fußballnationalmannschaft dann zum ersten Mal an einer Europameisterschaft teilnehmen und das Land in einen rauschhaften Zustand schier grenzenloser Euphorie stürzen. Und immer wieder überraschen Momente, wenn man sich mit Kosovaren während alltäglichen Situationen auf Deutsch über das Wetter, Deutschland oder die Bundesliga unterhalten kann; lebten doch viele von ihnen bis zur Abschiebung in Deutschland.
Nein, vor Reisen in das ehemalige Kriegsgebiet muss man sich keineswegs fürchten. Die aufgeschlossene junge Generation, uralte Klöster und verwinkelte Gassen der Bazare sorgen ganz gewiss neben der unberührten landschaftlichen Wildniss für unvergessliche Eindrücke. Im Herzen Prištinas steht seit der Unabhängigkeit von 2008 in überdimensionalen Buchstaben das Wort „Newborn“, mit verschiedensten Zeichnungen bedeckt und die Flaggen mehrerer Staaten zierend, hat sich der Schriftzug mittlerweile zu einem der bekanntesten Denkmäler der Hauptstadt entwickelt. Eine neue Geburt käme dem krisengebeutelten Kosovo tatsächlich nach den dunklen Jahren gewalttätiger Auseinandersetzungen gelegen. In welche Richtung sich der kleine Staat letztendlich bewegt, wird sich mit fortschreitender Zeit noch zeigen; vielleicht erfüllt sich in wenigen Jahren doch der europäische Traum so vieler Kosovaren, blickt man auf eine weniger ungewisse Zukunft und kann fast so etwas werden wie ein normaler Staat.