Polen ist nicht verloren – Lesen im Hinterhof
Armut ist sicher auch eine Frage des Standpunktes; hängt davon ab, woran man Armut misst. Johannson findet, Polen ist nicht arm, auch wenn viele im Westen Europas das denken. Here he explains why.
Polen ist nicht arm. Ich weiß, was viele von Euch denken. Ich weiß, was ich selbst noch vor einem Jahr im Hinterkopf hatte. Denn natürlich ist es auch nicht Deutschland. Der Unterschied liegt mal wieder im Detail. Aber zum Glück hat er Charakter. Oft ziehen mich die bei den vielen alten Vorkriegsbauten offenen Durchgänge in die Hinterhöfe an und letztens habe ich mich auf den sandigen Platz hinter einem Haus in der Boleslawa Chrobrego Straße gestellt. Ich sehe mich um und lese wie in einem Buch.
Keine Angst vorm Dunkel
Vor mir steht das Haus, alt und teilweise unverputzt. Die Aufgänge sind stockdunkel und ihre abgewetzten Treppen aus Holz so alt, dass nicht nur die Farbe längst verschwunden ist, sondern die Stufen in der Mitte tief eingetretene Dellen aufweisen. Aus Holz sind auch die Fensterrahmen, welche noch lange kein Doppelglas halten. Und dieser Geruch. Überhaupt nicht schlecht, nur wie... damals. Ich persönlich bilde mir gerne ein, es lägen Kohleeimer und Sonntagsbraten in der Luft, Woche für Woche ins Holz gelegt. Oft fühle ich mich ins Haus meiner Urgrosseltern zurück versetzt.
Wohlstand ist relativ. Ich habe diese Häuser nicht nur von außen gesehen. Ich weiß, die Wohnungen sind klein, für meine westlichen Augen etwas kahl und trotzdem durcheinander. Ich kenne Leute, da haben die Kinder Betten, aber sie selbst schlafen auf nackten Schaumstoffmatratzen. Doch sie sind ganz zufrieden. Obwohl es Stress sein muss mit den Kleinen; wird früh geheiratet, gibt es viele junge Familien mit Kindern.
In den dunklen Eingängen herrschen auch nicht Armut, Elend, Hoffnungslosigkeit und Verbrechen. Das sieht anders aus. Keine Banden oder Junkies in den dunklen Ecken, keine Flaschen oder Spritzen auf dem Boden, nicht einmal Scherben, zumindest nicht hier. Die Treppe hinunter kommen ältere Herren, akkurat gekämmt und mit bescheidener, jedoch glatt gebügelter Kleidung, korrekt im Erscheinen wie im Auftreten. Familien mit ein, zwei, drei Kindern, die ihnen Benehmen abverlangen, den Müll runter bringen, gemeinsam zur Kirche gehen. Oder irre ich mich?
Das Beste draus machen
Zurück auf den Hinterhof. Hinter mir liegen die kleinen Gärten, ohne Blumen, nein, Nutzgärten. In jedem Ort gibt es immense Kolonien mit Obstbäumen und Gemüsebeeten. Oft sind es ältere Paare, die sich dort noch abmühen. Ich kann sie vor dreißig Jahren sehen. Häufig bauen die Menschen selbst, vor allem auf dem Land sieht man viele Rohbauten, an denen Familien werkeln. Andere leben bereits in noch, manchmal scheinbar ewig, unverputzten Halbfertigkeiten umgeben von Baumaterial in Haufen, über die langsam Gras kriecht.
In der Mitte des Hofes stehen Garagen, zwei davon unbenutzt und voll Müll. Daneben steht ein flaches Haus, in dem auch Leute leben. Die Asymmetrie und stilistische Heterogenität der älteren Viertel ist erstaunlich. Vor der Tür haben sie ein Auto, einen weißen, alten Kadett wie ihn bei uns höchstens die ärmeren Jungproleten fahren. Hier gehört das, wenn auch abnehmend, der Mittelklasse. Auf den Straßen sind viele gebrauchte Wagen, oft Klein- und Kleinstklassen und ganz besonders typisch der zweitürige „Maly Fiat“, einfach und treffend „Kleiner Fiat“, denn er ist tatsächlich ein wahrer Winzling, von dem ich zuerst gar nicht glauben wollte, dass er keine spezifisch östliche Marke ist.
Der Preis
In jedem Keller ist ein Geschäft und scheinbar in jeder Litfasssäule steckt ein grün-gelber Kiosk. Die universell bestückten Tante-Emma-Läden halten sich hartnäckig, wo in Deutschland der Einzelhandel schon längst verschwunden ist; die niedrigen Löhne machen es möglich, vermute ich. Natürlich haben sie auch ihren Preis. Die Menschen sind nicht härter, aber sie tragen mit Sicherheit eine schwerere Last und ich möchte nicht die Kassiererin im Lidl sein, die vielleicht zwei Kinder durchzubringen hat.
Mir fällt mein Besuch bei Oktavia in London ein. Die Leute sind weder kalt noch egoistisch, nein, meistens lebensfroh und vor allem gastfreundlich, ich bewundere ihren Fleiß, aber sehe sie aus dem gleichen Grund manchmal fast schmerzhaft zielstrebig. Denn helfen können sie sich meist nur selbst. Der soziale Druck lässt gerne träumen und diese Träume werden auf riesige Plakate gepinnt. Von den Fassaden der Altstadt, von den Tafeln entlang der großen Straßen glitzert der Glanz und Glamour jung und meistens blond auf mich herab. Es sind Versprechen, in ihrer offensichtlichen Unmöglichkeit beinahe unverschämt: Erlösung durch Konsum. Ich denke, die Unsicherheit und ihr Vergessen haben die gleiche Wurzel.
Wie es der Zufall so will, komme ich selbst gerade zurück von unserem örtlichen Einkaufstempel, der Galeria Copernica. Auf meinem Weg passiere ich einen modernen Brunnen, eine überdachte Wanne mit zwei Hähnen. Hierher kommen die Leute, um ihre Flaschen aufzufüllen, denn Leitungswasser ist nicht gleich Trinkwasser. Ich bin schon fast zu Hause, im Blockviertel der Bazynski Straße. Hier hat jeder Doppelglasfenster. Die Menschen sind dieselben. Länder östlich der Elbe haben ein Stigma. Doch Polen ist weder arm noch elend, aber anders, so wie jedes Land und das ist auch gut so. Denn darum bin ich hier.