Plötzlich ist die Mauer wieder da
Zum 20. Jubiläum des Mauerfalls organisiert berliniort eine Ausstellung in Frankreich. Dabei wird ihm auch seine eigene Geschichte und die seiner Familie bewusst. Was bedeutet die Mauer heute noch?
Jubelnde Menschenmassen, hupende Trabis, Feuerwerk. Jeder kennt die Bilder vom 9. November 1989. Viel wurde mit denen gesprochen, die mit der Mauer groß wurden, auch wurde die heutige Jugend befragt.
Doch was ist mit der Generation dazwischen? Meine Familie war vor der Wende zweigeteilt, ein Teil lebte in Westberlin, der andere in Leipzig. Als ich jetzt im Alte von 23 Jahren in Frankreich eine Ausstellung anlässlich des 20. Mauerfall-Jubiäums organisiere wird mir klar, was die Mauer heute noch bedeutet.
Ich bin frei, ich bin dort wo meine Eltern damals nie hin konnten. Es ist Sommer im Jahr 2009, ich genieße das Leben in Niort, in einer kleinen Stadt im Westen Frankreichs. Unter der Woche arbeiten wir mit Jugendlichen, organisieren wir Koch- und Spieleabende, Ausflüge. Am Wochenende entdecke ich mit Freunden aus aller Welt das Land – Paris, Lille, Bordeaux - alles ist möglich. Mein Europäischer Freiwilligendienst entspricht genau meinen Vorstellungen. Ich lerne die französische Sprache im Alltag, im Gespräch mit jungen Menschen, beim Reisen. Deutschland scheint unendlich weit weg.
Auf einmal stoße auf ein Poster, von einer Veranstaltung zum 20. Jubiläum des Mauerfalls ist da die Rede, die Veranstaltung findet nicht etwa in Berlin statt, nein in Lyon. Und Deutschland ist wieder ganz nah. Die Jugendlichen und ich, wir werden eine Mauer in Niort bauen, mit eigenen Gedanken beschriften und sie anschließend einreißen. 20 Meter für 20 Jahre. Diese Idee kommt mir in diesem Moment, an diesem heißen Tag Ende Juli 2009.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich noch kaum mit dem Thema beschäftigt. Innerhalb weniger Monate sollte ich Bücher und Zeitschriften wälzen. Ich sollte anfangen die großen Zusammenhänge der Europäischen Geschichte zu begreifen, die Geschichte von Vaclaf Havel, von Solidarnosc und von Helmut Kohl. Und ich sollte die Wendegeschichte meiner Familie erfahren, die ich bis dato nur in Bruchstücken kannte. Wir sollten tatsächlich vor dem Jugendzentrum eine gigantische Mauer bauen. Am Ende sollte ich schließlich noch eine weitere Mauer entdecken – eine in meinem Kopf.
Als ich meinen Kollegen im Jugendzentrum die Idee vorstelle, sind sie sofort dabei. Eine Ausstellung zum Mauerfall und dazu vor dem Jugendzentrum eine große Mauer. Das gefällt ihnen. In den folgenden Wochen entwickeln wir die Idee, wir gewinnen den Deutschen Künstler Ossada für die Mauer von BERLINiort, so nennen wir das Projekt fortan. Ich beginne in Deutschland und Frankreich Partner zu suchen. Als einer der ersten sagt der deutsche Konsul in Bordeaux die Unterstützung des Konsulats zu. "Danke für Ihre großartige Idee!", schreibt er mir. Er rät uns, möglichst viele Schüler einzuladen. Das tun wir, kontaktieren Schulen, ein halbes dutzend Klassen meldet sich an.
Der deutsch-französische Verein Allemagniort übernimmt die Erstellung von Infotafeln, erste Jugendliche arbeiten mit, einer entwirft ein Logo für das Projekt, ein anderer hilft den Flyer zu gestalten. Nebenbei sprechen wir über Geschichte. Neue Partner werden gewonnen, die Stadt Niort und das Departement Deux-Sévres wollen sich an den Kosten beteiligen. Das Goethe Institut in Bordeaux sponsert eine Fotoausstellung. Wir planen neue Programmpunkte: eine Gesprächsrunde mit Zeitzeugen, ein Konzert und Videoabende mit "Goodbye Lenin!" und "Das Leben der anderen" werden eingebunden. Die Aktionen zwischen Mauerbau und Mauerfall erstrecken sich nun bereits auf zwölf Tage.
Ich lese viel, französische Zeitschriften und deutsche Bücher, sauge alle Informationen zu dem Thema auf. In der Schule hat keiner mit uns darüber gesprochen. Ein paar Zahlen kenne ich allenfalls von dort. Meine Familie unterstützt mich bei der Ausstellung, schickt Fotos für die Schautafeln und einige Aussagen. Ich befrage sie aus der Ferne per Telefon. Wie war das damals 1989? Meine Großmutter ist ein halbes Jahr vor der Wende in den Westen, sie ist nach einem Besuch bei Freunden einfach "drüben" geblieben, erfahre ich.
Allerdings erfahre ich das von meiner Mutter, meine Großmutter selbst mag darüber nicht sprechen. Schließlich kehrte sie drei Monate nach dem Mauerfall wieder nach Leipzig zurück. Traumatisiert. Oma hat schon einen Weltkrieg erlebt. Das muss hart für sie gewesen sein. Ich verstehe das. Ihre drei Kinder sind auch nach drüben, bis auf meine Mutter. Sie blieb als einzige da, erzählt sie mir. Ihre Schwester und ihr Bruder gingen drei Jahre vor der Wende nach Westberlin, ihre Schwester heiratete und ihr Bruder wurde gegangen, als "unerwünschte Person". Ende 1989 demonstrierten meine Eltern in Leipzig, meine Tante und mein Onkel in Berlin. 1990 sahen sich dann alle wieder.
"Ich dachte, die Mauer wäre etwas für die Ewigkeit", schreibt mir meine Tante per E-Mail, "ich dachte, sie wäre unzerstörbar." Auch meine Oma spricht nun mit mir: "Es ist unmenschlich, eine Mauer zu bauen und menschliche Beziehungen zu trennen", sagt sie mir bei einem unserer Telefonate. Sie finde es gut, dass ich so eine Ausstellung auf die Beine stelle. Ihr Bruder habe auf der anderen Seite der Mauer gelebt, "in Westdeutschland", sagt sie mir, ich höre, wie sie schluckt. Sie kann nicht darüber reden, sagt sie. Sie wechselt das Thema. Die Sätze meiner Tante und meiner Großmutter werden später auf den Schautafeln stehen, ich werde französischen Schulklassen die Geschichte dahinter erzählen, die Geschichte einer Teilung, eine Geschichte von vielen.
Es ist nun bereits Mitte Oktober, die Ausstellung soll drei Wochen später eröffnet werden. Einige Jugendliche aus dem Zentrum und ich organisieren eine kleine Pressekonferenz. Zwei Zeitungen sind gekommen und das Radio NRJ. Wir präsentieren das Projekt, die Journalisten fragen nach meiner Geschichte, ich bin froh, darüber sprechen zu können. Doch ich merke, dass ich noch nicht auf alle Fragen eine Antwort weiß. Warum ist meine Großmutter in den Westen gegangen? Sie wird es mir auch später nicht sagen. Warum ist mein Onkel eine "unerwünschte Person"? Das frage ich ihn einmal selbst.
Zeitzeugen melden sich auf Grund der Zeitungsartikel und des Radiobeitrags, wir beginnen Fotos für die Ausstellung auf Katons zu kleben, es sind nun nur noch wenige Tage bis zur Eröffnung. Die Jugendlichen stellen kaum Fragen, sie helfen aber gerne. Wir räumen Stühle und Tische aus dem Aufenthaltsraum, bauen Ständer für die Fotos, hängen die Bilder auf. Die Schautafeln sind fertig und werden an den Wänden angebracht. Der deutsche Künstler Ossada reist an, er kommt aus Sachsen, ich habe ihn bei einer Lesung in Mittweida kennen gelernt. Das Projekt interessiert ihn von Anfang an sehr, im November 1989 war er gerade 12 Jahre alt, erzählt er mir. Morgen werden wir anfangen aus Holzleisten und grauen Stoffbahnen eine 20 Meter lange und drei Meter hohe Mauer zu bauen.
Die Arbeit beginnt schleppend, außer den Arbeitskollegen, dem Künstler und mir sind anfangs nur zwei Freiwillige dabei. Erst am Nachmittag gesellt sich ein halbes Dutzend weitere hinzu. Wir sägen und hämmern, tackern und streichen. Die jugendlichen Bewohner des Hauses beobachten, was sich da vor ihrem Haus abspielt. Stacheldraht entsteht aus schwarzbesprühten Strick, französische Warnschilder wie "Attention!" oder "Contrôle!" aus bemalten Plastescheiben. Journalisten kommen vorbei, am kommenden Tag wird auf vielen Radiosendern, in Zeitungen und im französischen Fernsehen über BERLINiort berichtet werden.
Die Mauer steht - "krass", meint ein Junge. "Die macht mir Angst", hingegen ein Mädchen. Der Abend der Eröffnung. Die ersten fangen an, Graffitis auf die Mauer zu sprühen. Mehr als 400 Schüler, Studenten, Auszubildende und Arbeitssuchende im gleichen Alter werden es ihnen später gleichtun. Die Gäste kommen, etwa 50 sind es. Es wird gegessen und getrunken, einige Reden werden gehalten, an die Geschichte erinnert.
Doch ich, ich habe keine Augen mehr für die Mauer und die Menschen. Eine hübsche junge Frau ist mir unter den Besuchern aufgefallen, eine Deutsche. Hanna heißt sie, erfahre ich. Und ich erfahre auch: Hanna ist Westdeutsche.
Ich beginne ein Gespräch mit ihr. Ich erzähle, dass meine Eltern früher immer über die Wessis geschimpft haben und dass ich mich deswegen nicht gleich mit ihr verbunden fühle. Schließlich kommen wir ja beide aus demselben Land. Dass ihre Eltern nicht schlecht über die Ossis geredet haben und dass sie sich mit mir verbunden fühlt, meint Hanna, wir lachen und trinken zusammen ein französisches Bier. Nach dem Ende der Eröffnungsfeier gehen wir auf eine Party, vergessen das Thema Mauer. Wir küssen uns und erwachen am nächsten Morgen gemeinsam.