PISA-Studie – Was Estland besser macht
Die Ergebnisse der neuen PISA-Studie zeigen, dass Estland mit Platz fünf in der Gesamtwertung an der Spitze der europäischen Bildung steht und inzwischen selbst die Vorreiter der letzten Jahre aus Skandinavien hinter sich gelassen hat. Was ist das Geheimnis hinter dem estnischen Bildungserfolg und was kann Deutschland sich von dem kleinen, baltischen Staat abschauen?
Digitales Lernen
Nicht umsonst nennen die Esten ihre Heimat mit einem gewissen Maße an Stolz auch „E-Estonia“, elektronisches Estland. Von Behördengängen über Krankenkassenrezepten bis hin zu den Parlamentswahlen, alles wird in dem kleinen Land elektronischen und digital über die multifunktionale ID-Karte oder das Internet abgewickelt. Die ab dem Jahr 2000 laufende E-Kampagne der estnischen Regierung, welche unter anderem auch den jederzeit möglichen Zugang zum Internet als Menschenrecht erklärte, machte auch vor der Bildung keinen Halt, sodass alle estnischen Schulen seit der Jahrtausendwende Anschluss an das Internet haben. Altmodische Kreidetafeln, welche heutzutage in den meisten deutschen Schulen noch zum Standardinventar gehören, wurden schon längst durch moderne Whiteboards ersetzt, der Unterricht durch den ständigen Einsatz von Tablets und Laptops bereichert. Die meisten estnischen Schulen nutzen zudem das digitale Klassenbuch „e-kool“, in welchem Stundenplan, Hausaufgaben oder Fehlstunden eingetragen und von Zuhause abgerufen werden können. Auch die Eltern können über das Programm den Lernfortschritt ihrer Kinder beobachten oder Entschuldigungen für Fehltage digital hochladen. Neben Papier wird dadurch auch eine Menge an Unterrichtszeit eingespart, da weder jeder Schüler die Hausaufgaben abschreiben, noch einzeln für verpasste Unterrichtsstunden beim Lehrer vortreten muss.
Handyverbote, wie sie an vielen deutschen Schulen während Unterricht und Pause praktiziert werden, sind in Estland zudem meist unbekannt. Stattdessen wird den Schülern ein gemäßigter und vernünftiger Umgang mit digitalen Medien beigebracht, welcher ohne Verbote vermittelt wird. In den Pausen können die Schüler beispielsweise in den meisten Schulen WLAN nutzen oder ihre Geräte über die in den Pausenhallen nachgerüsteten Steckdosen aufladen.
Während diese Beschreibungen für deutsche Schüler und Lehrer noch nach Zukunftsmusik klingen, denkt die estnische Regierung schon an die nächsten Schritte auf dem Weg zum vollständig digitalen Klassenzimmer. Ab 2020 müssen beispielsweise alle Schulmaterialien digital vorliegen und auch an extra angefertigten Robotern, welche den Lehrer im Unterricht unterstützen, wird bereits von Einheimischen IT-Experten getüftelt.
Gerechtes Lernen
In Deutschland herrscht, und das ist seit vielen Jahren bekannt, eine gravierende Bildungsungleichheit. Die soziale Herkunft eines Kindes spielt noch immer eine entscheidende Rolle für den schulischen und beruflichen Erfolg im späteren Leben. So stammen derzeit beispielsweise 70% der Hochschulabsolventen aus Akademikerfamilien, während nur 30% in sozial schwächeren Familien aufgewachsen sind. Um die Bildung möglichst gerecht zu gestalten, wurden in Estland mehrere Konzepte entwickelt, die soziale Differenzen ausgleichen sollen. Interessant dabei, für die estnische Regierung beginnt Bildung nicht erst mit dem Schuleintritt, sondern schon im Kleinkindalter. Alle Kinder zwischen 0-7 Jahren haben beispielsweise Anspruch auf einen Kitaplatz, welcher nicht mehr als 58 Euro im Monat kosten darf. Erzieher in Kindergärten müssen in der Regel studiert haben und sich an nationale Lehr- und Erziehungspläne halten. Des Weiteren sind alle sechsjährigen Kinder dazu verpflichtet ein einjähriges Schulvorbereitungsprogramm zu besuchen, sodass alle Kinder zum Beginn der ersten Klasse ein ähnliches Vorwissen besitzen. Studien zeigen, dass dies ein effektives Konzept ist, welches für die Kinder das Risiko halbiert, mit 15 Jahren zu dem am schlechtesten abschneidenden Drittel, der an der Pisa Studie teilnehmenden Schüler, zu gehören.
Zudem wird in an estnischen Schulen gemeinsam gelernt und nicht, wie es in Deutschland üblich ist, bereits nach der Grundschule zwischen Gymnasium, Real- oder Hauptschule unterschieden. Schüler lernen von der ersten bis zur neunten Klasse zusammen und können sich danach entscheiden, ob sie auf eine Berufsschule wechseln oder den Sekundarabschluss II machen wollen. Dieses gemeinsame Lernen fördert nachweislich sowohl die vermeintlich schwächeren Schüler, welche von ihren stärkeren Mitschülern lernen können und durch sie motiviert werden, ebenso wie die stärkeren Schüler, die lernen Rücksicht zu nehmen und andere zu unterstützen.
Des Weiteren ist die Schule und alles, was in kleinster Weise dazu gehört, in Estland für jeden kostenlos, um auch Schülern aus ärmeren Verhältnissen die gleichen Bildungschancen zu ermöglichen. Dazu zählt, dass jegliche Schulmaterialien den Schülern kostenlos zur Verfügung gestellt werden, ebenso wie Freizeit- und Lernangebot am Nachmittag. Außerdem ist das warme Mittagessen an estnischen Schulen kostenlos, ebenso wie die Schülerbeförderung. Bus- und Bahntickets werden von der Regierung gestellt, auch wenn sich Schüler für eine weiter entfernte Schule entscheiden sollten. In Deutschland dagegen ist kostenloses Mittagessen in den meisten Fällen eine Besonderheit und auch der Transport zur Schule muss in vielen Fällen von den Eltern gestemmt werden. Dabei zählt Estland mit einem Bruttoinlandsprodukt von 19.500 Euro pro Kopf (2018) zu einem der ärmsten Länder der Europäischen Union und liegt damit sogar mehr als 10.000 Euro unter dem europäischen Durchschnitt, während Deutschland mit 40.800 Euro pro Kopf zu dem oberen Drittel gehört.
Fest steht damit, dass die estnischen Schüler keine Wunderkinder sind oder gar bei der PISA-Studie gemogelt haben, sondern in ihrem Heimatland einfach gute Bildungsvoraussetzungen vorfinden, an welchen lange gearbeitet wurde. Finanzielle Mittel, aber auch der Mut der Regierung schon in den frühen 2000er Jahren das neuartige Medium Internet im ganzen Land zu fördern, zahlen sich inzwischen aus und sollten spätestens damit Ländern wie Deutschland den Weg weisen.
Quellen:
https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/estland-digitalisierung-an-schulen-zu-besuch-im-digitalen-klassenzimmer-a-1176271.html
https://www.swr.de/wissen/Bildung-Wie-ungerecht-ist-unser-Schulsystem,artikel-bildungsungleichheit-klemm-100.html
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/188766/umfrage/bruttoinlandsprodukt-bip-pro-kopf-in-den-eu-laendern/
https://www.focus.de/perspektiven/14-laender-14-reporter/internet-als-schluessel-der-zukunft-mathequiz-mit-smartphone-so-pushen-estlands-schulen-spielend-die-lernmotivation-nach-vorn_id_9221764.html
https://en.wikipedia.org/wiki/E-Estonia
https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/estland-als-schul-vorbild-so-wird-lernen-gerechter-a-1184360.html
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