Ostdeutschland - Die verlorene Republik?
Vom Osten Deutschlands wird selten positiv gesprochen: Der Osten, das sind Hinterwäldler, Nazis und alte Kommunisten. Auch nach über zwanzig Jahren Mauerfall scheint es noch eine Grenze in Deutschland zu geben, zumindest eine der Vorurteile.
Chemnitz, die ehemalige Karl-Marx-Stadt, schlug vor kurzem für sehr negative Schlagzeilen: Nach dem Tod eines jungen Mannes formierte sich eine rechte Front in der ostdeutschen Stadt und ein gewaltbereiter Mob jagte Menschen anderer Hautfarben durch die Straßen. Unter meinen Freunden mit Migrationshintergrund ging Panik umher, ihnen wurde von allen Seiten geraten, sich nicht mehr in öffentlichen Räumen aufzuhalten und sich vor Rechtsradikalen zu verstecken. Diese Reaktion auf den rechten Mob erschrak mich am meisten - Menschen anderer Religion, anderer Hautfarbe, Kleidung oder Kultur sollen sich im modernen Deutschland verstecken? Wo greift denn unser Rechtsstaat, unsere Zivilgesellschaft, unsere Werte?
Der Umgang mit den Vorfällen in Chemnitz, aber auch mit anderen rechtsradikalen und rassistischen Angriffen in Ostdeutschland, demonstriert die gesamtdeutsche Sicht auf den Osten: Es scheint wenig Hoffnung für diese Region zu geben, vor allem aber auch wenig Ambition, etwas zu ändern. Leider gibt es in ganz Deutschland noch viele, viele Fälle von rechter Aktion, aber die Bundesländer des Ostens stellen in dieser Hinsicht traurige Rekorde: Hier in Dresden entstand 2014 die Protestbewegung Pegida (Patriotische Europäer Gegen Die Islamisierung Des Abendlandes), hier tauchte der rechtsextreme NSU unter und hier finden auch seit den 1990er Jahren Attentate gegenüber Menschen statt, die in Deutschland Hilfe und Asyl suchen.
Woran liegt das? Wie kommt es, dass eine ganze Region so verroht, so feindlich gegen alles Neue und Andere wirkt? Menschen werden nicht rechtsextrem und ausländerfeindlich geboren, es häufig die Umstände und der Kontext die diese Einstellungen bedingen - Was keine Entschuldigung ist, ganz im Gegenteil, aber ein Versuch zu Verstehen. „Integriert doch erstmal uns!“ schreien Menschen der Pegida-Demonstrationen. Solche Sätze zeigen mir, was hier das eigentliche Problem ist: Die Wiedervereinigung ist nicht so problemlos verlaufen, wie es uns in Geschichtsbüchern verkauft wird, es war nicht nur glorreiche Diplomatie und eine Befreiung des Osten. Die Menschen der ehemaligen DDR fanden sich sehr plötzlich in einem völlig neuen System wieder, in dem andere Regeln herrschten, in dem sie wenig willkommen waren und fühlten sich angesichts zerbrochener Lebensentwürfe sehr einsam. Ich spreche mit vielen älteren Menschen über die DDR-Zeiten, im Wartezimmer beim Arzt, an der Bushaltestelle, im Park: „Früher war nicht alles schlecht.“sagen sie häufig, und zählen mir die Vorteile auf. Es klingt nostalgisch, und fast ein bisschen entschuldigend.
Meine Freunde und ich, wir gehören zu einer anderen Generation, einer, die keine innerdeutsche Grenze mehr kannte. Deswegen weiß ich häufig nicht, wie ich auf diese „Ostalgie“ im Alltag reagieren soll. Denn auch wenn wir die DDR nur aus Erzählungen kennen, spüren viele junge Menschen hier noch die Nachfolgen: Wirtschaftliche Benachteiligung, langfristig schwache Infrastruktur und wenig Hoffnung, dass sich diese bald modernisieren wird, schlechtere Bezahlung und Vorurteile. Es ist leider ein häufiges, soziologisches Phänomen, dass sich Menschen, die sich subjektiv benachteiligt fühlen, sich gegen Neuankömmlinge wenden, die in ihrer Perspektive ihre prekäre Situation auch noch bedrohen. Und so häufen sich die Posts und Beiträge auf meiner Timeline, die die komplexe Situation in Deutschland vereinfachen: Geflüchtete kriegen alles, deutsche Rentner, alleinerziehende Mütter und Hartz-4-Empfänger bleiben auf der Strecke.
Man sollte diese Beiträge nicht ignorieren, denn auch wenn sie wahrscheinlich von rechten Gruppen und Parteien produziert wurden, wurden sie von angsterfüllten Menschen geteilt: Das entschuldigt keinen Rassismus und keine Vorurteile, aber es erklärt einiges: Gerade die jungen Menschen, die in Chemnitz, Dresden oder Halle auf die Straße gehen, haben wenig Hoffnung und Perspektiven. Der Staat bietet zwar viele Chancen, diese stehen aber lange noch nicht jedem offen. Und dann ist es natürlich einfach, Sündenböcke zu wählen und allgemeine Missstände auf sie zurückzuführen - Auch wenn diese schon lange vor den ersten „Flüchtlingswellen“ existierten.
Daher ein kleiner Appell: Nicht nur die Politik, auch die Zivilgesellschaft in Deutschland muss versuchen, all ihre Bürger zu verstehen und mit ihnen in einen Dialog zu treten. Was wir gerade in Deutschland, Frankreich aber auch in vielen anderen europäischen Ländern erleben ist ebendiese Spaltung zwischen politischer Elite und dem Volk, und das gibt Raum für Populismus. Die alten Bundesländer müssen Ostdeutschland wahrnehmen, seine jungen Menschen und all seine Probleme. Aber nur so können wir endlich vollständig zusammenwachsen.
Meine Quellen:
https://www.ndr.de/kultur/Sind-Ostdeutsche-auch-Migranten,migranten150.html
https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/chemnitz-deshalb-hat-sachsen-ein-rassismus-problem-15763015.html
https://www.deutschlandfunk.de/die-nachwuchs-generation-ost-junge-deutsche-zweiheit.724.de.html?dram:article_id=429625