Neues aus der Lagune
Viel ist passiert: Das Haarmonster, Teil 2, St. Martins-Feier, Linsen in Salzwasser, das was Frauen weiblich macht (Atis) und Gedanken zu Kinder-Erziehung und Gesellschaft.
Wieder mal hat sich einiges ereignet hier in La Laguna seit dem letzten Bericht.
Ich versuche die Ereignisse bzw. Lageberichte mal wieder so gut verständlich wie möglich zu gliedern und so weit er und so fort…
Anhaltender Haar-Wahn
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Alaya, einem der Sorgenkinder in unserer Gruppe, habe ich das Haare-Kauen immer noch nicht abgewöhnen können. Trotz Hoffnung erweckendem "sí" (geraunt) und bekräftigendem Kopfnicken nach jeder Ermahnung überkommt sie anscheinend immer wieder der unwiederstehliche Drang, Haare oder zumindest haarähnliche "Substanzen" in die Finger und schließlich in den Mund zu kriegen, wobei sie ganz schön erfinderisch geworden ist: Sind gerade keine Haare in Sicht, zieht Alaya sich kurzerhand Hausschuhe und Socken aus, um dann von der Innenseite des Bündchens der Socken die Objekte ihrer Begierde – Fäden – zu ernten. Alternativ taugen auch Puppenkleidung oder alles andere, was aus Stoff gemacht ist. Atis Meinung nach handelt es sich bei Alayas Verhalten tatsächlich um eine Art Zwang, den sie nur bedingt kontrollieren kann.
Fiesta de farol
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Letzten Freitag, einen Tag nach St. Martin, fand im Kindergarten die "fiesta de farol" statt. Alle Eltern und Kinder trafen sich also, um die zuvor gebastelten Laternen beim Laternen-Umzug einzuweihen. Es war arschkalt, Knicklichter in Laternen (eigentlich ein bisschen "un-waldorf") hingen an den Bäumen und wiesen den Weg. Zum Schluss des Umzuges, der etwa 10 Minuten dauerte, gab es dann noch geröstete Ess-Kastanien und das wars dann auch schon. Ich fand die ganze Sache ein bisschen mickrig, auch wegen der mäßigen Beteiligung der Eltern, die eigentlich kaum mitgesungen haben. Die Beschwerden einiger Eltern wirken angesichts dessen allerdings ziemlich absurd. So beschwerten sich tatsächlich mehrere Eltern über die startenden und landenden Flugzeuge (der Flughafen Tenerife Norte ist ja direkt in der Nähe) und über darüber, dass so wenige mitgesungen hätten.
Laut Atis sind diese Beschwerden aber nichts besonderes, sondern eher Ausdruck der Grundhaltung, die die meisten Eltern hier haben: "Wir zahlen, also wollen wir das, das und das, aber selber beitragen wollen wir eigentlich nichts." Diese Haltung hat sicher auch damit zu tun, dass es sich bei den Eltern hauptsächlich um eine Klientel mit Geld aber wenig Bezug zur Waldorfpädagogik handelt.
Ausgehen mit Atis & Pablo
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Nach der St. Martins-Feier schlug Atis vor, doch noch ein Bierchen zusammen zu trinken. So lernte ich sie noch von einer anderen Seite, als nur der der "Vorgesetzten" kennen. Bevor wir in eine Bar gingen, lud sie mich noch zu sich nach Hause ein, wir tranken einen "chupito" (Schnaps, in diesem Fall Kräuter-Schnaps) und für mich stellte sich heraus, das Atis eine wirklich lockere Kindergärtnerin, die trotz ihrer fast 30 Jahre geistig jung geblieben ist.
Wir unterhielten uns ausgiebig: über die Arbeit im Kindergarten, Antonia und ihre Komplexe und andere Dinge. In einer Bar aßen wir haufenweise Hartkäse, Oliven und sog. "chochos" (LEO: chocho = Muschi); das sind in Salzwasser eingelegte Bohnen, die geradezu süchtig… und durstig machen.
Dann kam noch Pablo, Atis' argentinischer Freund hinzu, mit dem ich mich auch sehr angeregt unterhielt und wir zogen noch durch diverse Kneipen und Bars. Angenehmer Nebeneffekt: Ich gab den ganzen Abend kein Geld aus, da mir entweder Atis oder Leute, die ich im Laufe des Abends kennenlernte, feste und flüssige Nahrung ausgaben.
In den eher späteren als früheren Morgenstunden kehrte ich schließlich zurück, konnte dabei aber niemanden aufwecken, da Antonia sich mal wieder zur ihren Großeltern abgesetzt hatte.
In morgendlich-gelangweilter Melancholie anlässlich der gedämpften Sonnenstrahlen, die unerbittlich durch mein Milchglas-Fenster zum Hof drangen schoss ich ein paar Selbstprotraits, die nun den Inhalt meines "Ich-Ordners erweitern".
Resultat dieser Nacht: mit meinem Verhältnis zu Atis hat sich gleichzeitig das Verhältnis zu meiner Arbeit verändert: ich bin nun nicht mehr nur "Arbeitssklave", als der ich mich zeitweise schon fühlte, sondern engagiere mich bereitwilliger, da ich im Bewusstsein habe, wie wichtig meine Arbeit auch für Atis ist.
Gedanken zur gesellschaftlichen Relevanz der Kinder-Erziehung / meiner Arbeit:
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Über Gesellschaft und Zukunft nachdenkend, beginne ich langsam zu begreifen, welch wichtige Rolle der Kinder-Erziehung und damit auch meiner Arbeit dabei zukommt.
Ohne hier psychologische Thesen aufstellen zu wollen, halte ich es für unbestritten, dass (früh-) kindliche Erlebnisse und Erfahrungen die Entwicklung des Menschen und das, was er ist, wenn er fertig (erwachsen) ist, maßgeblich beeinflussen.
Gleichzeitig glaube ich, dass auch heute und auch (vielleicht gerade?) in der besser betuchten (Mittel-) Schicht, die die Klientel des Kindergartens El Moral bilden, erziehungsmäßig einiges schief läuft.
Ein Artikel aus "El País", der am ersten "Elternabend" des Kindergarten-Jahres ausgeteilt wurde, bringt es m.E. auf den Punkt. Kinder, die als ständig in Watte gepackt, von allen vermeintlichen Gefahren abgeschirmt werden und denen jeder (Konsum-) Wunsch von den Lippen abgelesen wird, entwickeln sich auch zu unselbstständigen Erwachsenen. Die Tatsache, dass in Spanien allgemein Kinder (v.a. Jungs) lange, nicht selten bis 30, im Elternhaus wohnen, mag auch andere Gründe haben. Wie aber der Autor dieses Artikels schreibt, beschränkt sich die Abhängigkeit der Kinder von ihren Eltern nicht nur auf die Wohnverhältnisse: oft geht es soweit, dass Eltern ihre Kinder bei Bewerbungsgesprächen "unterstützen" oder Kinder bei der Uni-Immatrikulation lieber auf ihre Eltern verweisen, statt sich selbst um den nötigen Papierkram zu kümmern.
Bei den Kindern in meiner Gruppe lässt sich auch gut feststellen, wer anscheinend sehr verhätschelt wird: Zwei der drei Guillermos im Kindergarten werden mit zwei bzw. drei Jahren noch gestillt, was hier auch bei Fünfjährigen offenbar keine Seltenheit ist.
Während ich das eher gefühlsmäßig mit der Gebundenheit an die Mutter verbinde, so glaube ich doch auch, dass diese Kinder sehr verwöhnt werden. Wie sie die zukünftige Gesellschaft sein werden, so sind sie auch Spiegel der jetzigen Verhältnisse und der Werte und Einstellungen die für wichtig gehalten werden.
Interessant fand ich in diesem Zusammenhang das beliebteste und häufigste Thema beim "saludo de la mañana" (Morgen-Begrüßung): "Ich habe etwas großes / tolles zu Hause" z.B. von "Hello Kitty" (eine Marke, die hier ohnehin allgegenwärtig scheint). Erstaunlich finde ich, dass der bloße Besitz von Dingen und das Erzählen davon (prahlen) für Kinder im Alter ab 3 Jahren scheinbar schon so wichtig ist. Selbst gekauft haben sie sich die "Hello Kitty"-Artikel bestimmt nicht… Ich weiß nicht, ob diese Schlussfolgerung nicht etwas übertrieben ist, angesichts dessen, dass mein Bewusstsein für entsprechende Verhaltensmuster durch das Lesen von Erich Fromms "Haben oder Sein" (1980), der von der Haben- bzw. Sein-Orientierung als im menschlichen Wesen angelegten Charakterstrukturen ausgeht, möglicherweise etwas übersensibel ist.
Eine weitere Frage ist mir im Umgang mit den Kindern gekommen: wie Lob und Tadel anwenden?
Das Lob und Tadel ein Konditions-Mechanismus von großer Bedeutung nicht nur in der Kinder- sondern auch in der "Erwachsenen-Erziehung", also der Ausübung von Kontrolle über andere Menschen, ist, halte ich für eindeutig.
Um bei einem Kind ein bestimmtes Verhalten zu fördern, lobt bzw. belohnt man es, um anderes Verhalten zu unterbinden tadelt bzw. bestraft man es in der Regel. Meine Frage ist: wie viel Lob ist angebracht bzw. hilfreich? Wie viel ist zu viel und führt eher dazu, dass entsprechende Kinder mit einem Hang zur Egozentrik noch egozentrischer werden? Ein Beispiel hierfür ist einer der Guillermos, der – egal bei welchem Essen – immer rumplärrt und nicht essen will, generell bei den kleinsten Anlässen oder ganz ohne sichtlichen Anlass anfängt zu weinen und dessen Sätze, wenn er gerade nicht die Ohren seiner Mitmenschen in Mitleidenschaft zieht, hauptsächlich aus "yo" (ich) + Hauptwort (ich will etwas haben, z.B. "Cora! Yo tortilla") oder "yo" + Verb (sinngem. "schau mal was ich mache / kann / gemacht habe) besteht. Ich bin mir nicht sicher, ob diese offensichtliche Selbstbezogenheit des 3-jährigen eine Phase ist, die auch wieder vorbeigeht oder ob sie den Charakter des jugendlichen bzw. erwachsenen Guillermo nachhaltig negativ beeinflusst. Ich bin mir jedenfalls sicher, dass entsprechendes Verhalten immer von Eltern oder Erziehern gefördert oder abgewöhnt werden kann.
Naja…
Genug Gedanken mitgeteilt für heute, jetzt gibts noch was auf die Augen: ich habe ein paar Fotos von meinem Weg zur KiGa geschossen, die ich hier mal präsentieren will:
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