Mit dem Fahrrad auf der Autobahn
Eine Exkursion in den polnischen Supermarkt.
Es ist ja nicht so, dass Tschechien nicht schon günstig genug wäre. Vier Euro für ein vollständiges Essen im Restaurant, weniger als ein Euro für zwei Liter Cola. Das sind so die Maßstäbe, anhand derer ich vergleiche. Für andere mögen es die 3,50 €-Zigaretten sein, das 60 Cent-Busticket oder das Ein-Euro-Bier. Unabhängig davon, woran man jetzt die Preisunterschiede festzumachen versucht, sie sind immens. Und wäre ich dem Nachbarland nicht so nahe, würde sich auch jede Diskussion über Lebensmitteltourismus á la Schweiz sofort erübrigen. Das waren jetzt viele Konjunktive, denn wir befinden uns hier lediglich fünf Kilometer vom nächsten Einkaufsort in Polen entfernt. Scheinbar sind es auch nicht nur die Schwaben, denen „günstig” noch nicht gut genug ist. Es wurden bereits Pläne geschmiedet, wann man am besten zum Einkaufen nach Kudowa-Zdrój fährt. Es gibt eine Busverbindung, sodass man relativ schnell und günstig dort ist. Eigentlich war für den heutigen Tag eine Einkaufstour geplant, die aber aufgrund von spontanen Eingebungen unserer tschechischen Obrigkeit leider ins Wasser fallen musste. Tschechische Zuverlässigkeit bei der Arbeit. Mein Fahrrad hatte ich ja zum Glück mitgenommen. Nach dem ungewollt frühen Aufstehen setzte ich mich also mit meiner polnischen Mitbewohnerin an einen Tisch, um die Einkaufsliste zu erstellen. Wenn man allein lebt, merkt man erst mal, wie viele Sachen man eigentlich einzukaufen hat, wenn der mysteriöse, sich immer wieder von alleine auffüllende Kühlschrank plötzlich weg ist. Jeden Morgen geht man mit einer gewissen Erwartungshaltung an den Kasten, bloß um festzustellen, dass sich leider nichts Essbares in der Nacht gebildet hat. Vielleicht muss man nur lange genug warten.
Von nichts kommt nichts, also sind wir so vernünftig und schreiben gleich alles zum Leben Nötige auf, ohne es weiterhin vor uns herzuschieben. Reinigungszeug, Müllbeutel, Obst, Gemüse, Fleisch selbstverständlich, Quark und so weiter. Mit einer DIN-A4-Seite voller Artikel verlasse ich das Haus auf meinem Fahrrad. Das erste, was ich sehe, ist die Polizei. Zwei Beamte stehen dort mit einem Mann, vielleicht Veteran, jedenfalls hat er keine Arme mehr, und scheinen eine Angelegenheit zu klären. Dem einen Beamten nicke ich freundlich zu, während dieser nur angespannt um sich blickt. Ich mache fast schon schizophrenerweise den an dieser Ausfahrt völlig überflüssigen Schulterblick und fahre an den Beamten vorbei Richtung Ortsende. Es ist ein Sonntagmorgen. In Deutschland wäre ich jetzt entweder in der Kirche oder im Bett. Letzteres in letzter Zeit wohl eher. Mit Sicherheit aber nicht auf dem Weg zum Einkaufen, denn im schönen Deutschland haben am Sonntag alle Geschäfte geschlossen. Ein Glück, dass ich hier in Tschechien, bzw. in ein paar Minuten in Polen bin.
Als ich noch im Wohngebiet, einer Tempo-30-Zone fahre, werde ich vom Škoda Yeti der Polizei überholt. Sie sind jedoch relativ schnell unterwegs. Mit dem Fahrrad habe ich ungefähr 25 km/h drauf. Die Beamten sausen mindestens doppelt so schnell an mir vorbei. Ich bin regelrecht verblüfft über dieses sonderbare Verhalten. Wäre ein amüsanter Werbetext: „Tschechien, das Land, in dem sich nicht mal die Polizei an die Regeln hält.”
Bevor ich das Dorf/die Stadt – darüber gibt es oft Debatten – scheinbar hat jede Nation ihre eigene Definition – ich wäre am ehesten für die Bezeichnung „Stadt” – verlasse, ziehe ich mir die orangene Warnweste über. Das sei ein Gesetz für Fahrradfahrer in Polen, sagt mir Ewelina, die polnische Mitbewohnerin. Eigentlich trägt Orange ja nur die Müllabfuhr – gut, ein paar Niederländer gern auch einmal, hätten sie bei der Europameisterschaft mal mehr zum Feiern gehabt – folglich komme ich mir etwas behämmert vor in dieser Weste, die sich natürlich vorzüglich mit meinem komplementärfarbenen, blauen Rucksack ergänzt.
Ich fahre erst einmal nach Gefühl, nirgendwo ist Kudowa-Zdrój angeschrieben. Nach ein paar Kilometern sehe ich das polnische Hoheitszeichen, so falsch kann ich also gar nicht sein. Wie sich nachher herausstellen wird, war es von Anfang an der richtige Weg. Glück muss man haben. Gerade noch beflügelt von diesem Erfolgserlebnis, muss ich nun feststellen, dass der Gehsteig an dieser Stelle endet. Und zwar „endet” im wahrsten Sinne des Wortes. Die Straße geht einfach über in eine Wiese, ohne auch nur irgendeinen Ausweg zu bieten. Polnische Straßenplanung eben. Dafür wird die Hauptstraße nun zweispurig und die Leute fahren zwar alles, aber nicht die 60 km/h, die auf dem Schild stehen. Anscheinend ist es nur eine Landstraße, trotzdem rasen die Leute, als sei es die deutsche Autobahn. Und ich, mit meinem Fahrrad auf dem Einfädelungsstreifen, denke mir nur: „Wenn du das überlebst, dann überstehst du auch das ganze Jahr.” Es geht auch noch einen Berg hinauf, sodass ich vielleicht mit 15 km/h unterwegs bin, während die Autos mit 100 Stundenkilometern vorbei brettern. Es fühlt sich an, als müsste man sich als Auto die Spur mit dem Zug teilen. Nach zwei Kilometern gibt es endlich wieder einen Gehweg. Erleichtert und noch am Leben wechsle ich und sehe nach einem weiteren Kilometer den vorher vereinbarten Supermarkt. Sein Name ist „Biedronka”, das ist „Marienkäfer” auf Polnisch. Ein passendes Symbol zeigt das auch für die nicht der Sprache mächtigen Menschen. Wieder auf der Autospur, biege ich links ab und parke mein Fahrrad vor dem Supermarkt. Endlich kann ich die Weste im Rucksack verschwinden lassen. Das Schloss rastet ein und ich kann beruhigt in den Supermarkt gehen. Die Eingangstüren, die mit Bewegungssensor arbeiten, brauchen merklich länger, um aufzugehen. In deutscher Gewohnheit pralle ich beinahe gegen das grüne Glas. Ist das vielleicht ein erstes Indiz für die osteuropäische Trägheit?. Selbst in Italien hatte ich die Dauer der Türöffnung nicht so lange in Erinnerung.
Ich bin umgeben von einem relativ überschaubaren, etwas chaotischen (das Shampoo steht bei den Spirituosen) Sortiment. Anfangs laufe ich nur staunend umher und beobachte das Verhalten der anderen Leute beim Obsteinkauf. Tüten und Kilopreise, folglich: loses Obst und Gemüse, gibt es hier auch. Bloß sehe ich niemanden die Waage benutzen. Beim Mann, der Bananen kauft nicht, auch nicht bei der Frau, die scheinbar die ganze Palette Zwetschgen mitzunehmen versucht. Nirgendwo bekomme ich den Einsatz der Waage mit. Also packe auch ich die Bananen und die Äpfel ein und hoffe auf das Wiegen an der Kasse. An Skorbut werde ich jetzt schon mal nicht sterben. Mein nächster Weg führt mich zu den Backwaren. Hier muss ich wirklich schmunzeln. Die Stücke sind so günstig, dass ich es kaum fassen kann. Nach dem nur aus einer Banane bestehenden Frühstück, welche ich auch noch von meiner Mitbewohnerin geschenkt bekommen habe, also nicht einmal selbst gekauft hatte, haben meine Augen die Donuts anvisiert. Ein Złoty und 49 Groszy kostet einer. Das sind 34 Cent. Fast schon unverschämt billig für einen Deutschen wie mich, der eher den drei- bis vierfachen Betrag gewöhnt ist. Und die sehen nicht mal schlecht aus. Im Gegenteil. Während man in Deutschland ja meist irgendwelche alten, fettigen, und nur mit einer minimalen und fast flüssigen Schokoglasur versehenen Donuts bekommt, ist dieser quasi der Mercedes unter den Donuts. Ich rede hier schon, als sei ich der Donut-Aficionado par excellence, welcher ich selbstverständlich nicht bin. Wohl aber ein hungriger Kerl, der gerade die fünf Kilometer hierher, getrieben von den Autos, ungewöhnlich schnell gefahren ist. Mit nur einem kleinen Gefühl von Reue greife ich mir ein Exemplar und packe es in die Tüte. Statt einen Einkaufswagen mitzunehmen, benutze ich die Handregel. So lange einkaufen, bis man nichts mehr tragen kann, dann ist der Rucksack voll.
Das Mathe-Abitur liegt schon in ferner Vergangenheit, doch plötzlich muss ich wieder überall Kopfrechnen. Die Mathematik erfährt eine unerwartete Renaissance. Faktor 4 ist nun nicht gerade ein Ding der Unmöglichkeit, deshalb geht die Herumrechnerei in Polen merklich schneller. Ich kaufe noch Fleisch ein, zwei Burgerscheiben, die laut Etikett zu 99% aus Rind bestehen. Was diese dämliche Zahl soll, weiß ich nicht. Warum nicht 98%? Aus was das eine Prozent besteht, möchte ich eigentlich gar nicht wissen. An Lebensmitteln ist das erst einmal genug. Ich gehe in die Abteilung mit den Reinigungsutensilien. Es ist wie eine Art Offenbarung. Als hätte Ewelina die Aufstellung der Waren vorher gekannt, finde ich alles der Reihenfolge nach. Müllbeutel, einfach mal die erstbesten mitnehmen, Klostein blau/violett, wird schon passen, polnische Scheuermilch, wenn ich das richtig verstanden habe und schon sind meine Hände voll. Besser gesagt auch meine Arme. Voll bepackt gehe ich zur Kasse. Umgerechnet 2 Cent für eine Tüte, das sind doch mal vernünftige Preise. Offensichtlich blieb Polen bisher von der in Deutschland schon heimischen, grünen Plage bisher verschont. An der Kasse wiegt die Kassiererin die Früchte ab. Die Waage zeigt genau den gleichen Betrag wie die Kontrollwaage in der Obstabteilung. Aufs Gramm genau. Eine derartige Präzision finde ich absolut bemerkenswert und mit einem Schmunzeln nehme ich diese Beobachtung zur Kenntnis. Etwas mehr als 30 Złoty haben die ganzen Sachen gekostet, das ist echt unglaublich. Deutschland ist ja schon als Billiglebensmittelland verschrien, Tschechien halbiert diese deutschen Preise noch mal und Polen setzt dem ganzen die Krone auf.
Wie erwartet passen alle meine Einkäufe, wenn auch nur unter Krafteinsatz, in den Rucksack. Das Donut wird gleich vor der Filiale verspeist, ein unangemessener Ort für ein Frühstück, zumal mir der Wind den Zigarettenrauch eines Mannes oder der blonden Mutter, ich sehe nicht, wer von ihnen raucht, zubläst. Abgesehen von der ungewohnten Lage lasse ich mir das Kalorienmonster genüsslich schmecken. Ich war ja nicht zuversichtlich, werde jetzt aber entgegen meiner Erwartungen von einer Marmeladenfüllung überrascht. Ein wahrer Genuss und zusammen mit der Banane ein ganz passables Frühstück, obschon es fast Mittag ist. Ich werfe den Müll in einen der zahlreichen Mülleimer, werfe mir meine Sicherheitsweste über und schwinge mich auf den Sattel. Den Weg kenne ich nun und folglich verläuft die Fahrt ohne Komplikationen. Nach ein paar Minuten Fahrt treffe ich auf ein Pärchen, das ebenfalls auf der Straße fährt. Selbstverständlich – wer hätte es geahnt – ohne Warnweste. Mal wieder komme ich mir wie der dumme Deutsche vor, der als einziger die Regeln befolgt. Der deutsche Fußgänger, der nachts um drei an der roten Ampel wartet, um nach einer autolosen Periode endlich die Straße zu überqueren. Fast schon ein Stereotyp. Und nun eben ich, der Müllmann-Fahrradfahrer. Was man nicht alles tut, um die Klischees zu erfüllen.
Von diesen Gedanken braucht es gar nicht viele und schon ist man wieder an der Grenze. Česká Republika: mein Heim für das Jahr. Man merkt nicht mehr wirklich den Unterschied. Der Grenzübertritt wurde spätestens seit dem Schengener Abkommen ein durchaus langweiliges Unterfangen. Was einzig und allein die Souveränität auszustrahlen versucht, sind diese zwei benachbarten Schilder.
Wieder in Tschechien, kann ich quasi direkt in mein Wohngebiet abbiegen. Das wäre doch mal eine Routenbeschreibung: „Wenn Sie von Polen her kommen, einfach nach der Grenze links.” So einfach war es dann auch.Da ist auch schon das Wohngebiet, arbeitende Leute an einem Sonntag, ein ungewohntes Bild. In diesem Haus wohnen Hunderte Menschen, doch immer, wenn ich ein- oder ausgehe, scheint das Haus unbewohnt zu sein. Mal wieder ohne irgendjemanden anzutreffen, stelle ich mein Fahrrad in den Fahrradkeller und gehe schwerbepackt in den Aufzug. In der Wohnung werde ich von meiner anderen Mitbewohnerin mit dem Kommentar begrüßt, dass es aber schnell gegangen sei. Ja, es ging schnell, wenn man auf der Schnellstraße um sein Leben fürchten muss. Das war er also, der erste Besuch in Polen.