Meiner Freundin Kanze, die mir half zu verstehen wie Stereotypen wirken
Warum ich so schwer begeistert bin von meiner kenianischen Freundin Kanze?
Weil sie nicht so begeistert von unserer Ankunft war! Sie verstand nicht, warum um uns so ein Wirbel gemacht wurde, von wegen was für ein Privileg es sei, dass wir aus Deutschland kommen und ein Projekt mit ihnen machten. Sie sagte mir, dass ich nicht denken soll, dass ich weiß wie etwas besser geht - wenn wir etwas planen oder eine Mind-Map machen. Wir sind schließlich in Kenia, also soll ich nicht so arrogant sein. Klar, ich darf alles machen wie ich es will, auch wenn es doch schlauer wäre auf sie zu hören, schließlich kennt sie sich aus. Aber ich soll ihr nicht sagen, wie sie etwas zu tun hätte. Am liebsten beschreibe ich Kanzes Art mit dem folgenden Erlebnis:
Die Hauptstadt Kenias ist groß. Als ich im Herbst 2013 im Rahmen einer internationalen Jugendbegegnung in Nairobi war, sah ich die Häuser hoch in den Himmel ragen, Staub die ganze Stadt bedecken und die Luft flirren. Ganz weit oben zogen riesige Vögel ihre Kreise.
Wir trafen Mitarbeiter eines befreundeten Projektes. Sie fuhren mit uns in einen Bus nach Mathare. Mathare ist ein Slum. Ein paar Stunden Slum Safari? Durchlaufen und wie in einem Museum angucken? So etwas gibt es. Der Unterschied bei uns: wir zahlen nicht, wir kommen als Freunde. Wir bekommen das Projekt gezeigt und tauschen uns auf Augenhöhe aus.
Trotzdem: für ein paar Stunden wird mir ein kurzer Einblick in ein Leben gewährt, dass ganz anders ist als meines. Ich kann mir bis heute nicht vorstellen, dort zu leben. Ich weiß, wie ich diesen Tag verbracht habe. Doch wie die Menschen dort jeden Tag verbringen, kriege ich nicht in meinen Kopf. Klar ich weiß, dass es so ist. Aber nachempfinden kann ich es nicht.
Mathare war wie ein Labyrinth. In dunklen Durchgängen standen Greise. Betrunkene drückten sich im Schatten der Wellblechhäuser. Kinder liefen mit uns und sprangen über Rinnsale aus braunem Wasser. Dreck bedeckte dort sowieso alles und neben Abfall lagen Plastiktüten mit Notdurft auf den Wegen.
Unsere Begleiter erklärte uns, für Muzungus (Menschen mit heller Haut) einen Slum zu betreten sei lebensgefährlich.
Am nächsten Tag ging es nach Dandora. Dort befindet sich Nairobis Dumpsite, von der es heißt, dass dort ein Menschenleben nichts wert sei. Dumpsite heißt Müllkippe. Kilometerweit Müll – abartige Gerüche – Nebel nahm uns die Sicht. Ein Nebel aus Verbranntem. Ein stickiger Qualm. Ab und zu züngelten Flammen über die Berge. Berge aus Plastik, Kleidung, Essen, Federn und Notdurft. Vögel – wie Aasgeier hockten auch dort überall diese riesigen Marabus. Von Zeit zu Zeit kamen Lastwagen und luden neuen Müll ab. Menschen wühlten; Plastik können sie zu den Fabriken bringen, Metall zum Schrotthändler. Menschen arbeiten. Menschen schlafen. Menschen essen. Menschen spielen. Menschen werden geboren. Menschen sterben. Menschen schnüffeln Klebstoff. Menschen leben auf dieser Dumpsite im Müll.
Am Abend begaben wir uns zum Bahnhof, der Nairobi Railway Station und stiegen in ein klappriges Zugabteil, um weiter ins Unbekannte zu fahren, an die Küste.
In der Nähe von Mombasa besuchten wir die Lulu High School. Unsere kenianischen Freunde gehen hier zur Schule. Unser gemeinsames Thema hieß Tourismus, Fluch oder Segen für Kenia. An einem Tag machten wir einen Ausflug zum Strand und ich saß mit meiner Freundin Kanze am Meer.
Irgendwann fragte Kanze mich neugierig, wie mein Aufenthalt in Nairobi war und ich fing an, ihr von unserem Besuch im Slum und auf der Dumpsite zu erzählen. Nach einigen Minuten meiner Schilderung unterbrach sie mich und meinte, dass sich meine Geschichte interessant anhöre, sie aber nicht das Bedürfnis hätte dort hinzufahren. Ganz entrüstet verteidigte ich meine Erfahrungen und sagte ihr, so wie ich sie kennen lernen durfte, sei ich mir absolut sicher, dass sie es dort auch sehr spannend gefunden hätte.
Schulterzuckend und ernst fragte sie mich: „In Deutschland - gehst du dort zu den Obdachlosen und lässt dir ihre Lebensgeschichten erzählen, willst du alles über ihr Leid erfahren?“ Ich musste verneinen. Ihre Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht und sie fügte hinzu: „Zuhause schaust du weg, aber du kommst hier her und weißt, dass es in Kenia die größten Slums in Ostafrika gibt und willst sie unbedingt sehen, um dir selbst dein Afrika-Bild von Armut zu bestätigen. Hier gehört das ja her...“
Obwohl ich rassismuskritisch und über Stereotypen aufgeklärt nach Kenia fuhr – sie hatte Recht. Sie hat mir gezeigt, wie ich mich selbst entscheiden kann die Welt zusehen. Denn es gibt sehr viel mehr als nur eine Perspektive. Um etwas zu verstehen, lohnt sich ein Blickwechsel. Danke Kanze, dass du mir dabei geholfen hast.
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