Meine französische Oma
Mein besonderer Mensch? Ganz klar: Meine französische Oma. Sie machte jeden Tag meines Freiwilligen Sozialen Jahres zu etwas Besonderem.
Als ich sie das erste Mal richtig wahrnahm, saß sie in einer der hinteren Ecken im großen Speisesaal. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, die Hände fröstelnd zwischen den Oberschenkeln. Schüchtern wippte sie mit dem Fuß im Takt der Musik. Es war einer meiner ersten Arbeitstage in dem kleinen Altersheim in Nizza, Südfrankreich, in dem ich mein Freiwilliges Soziales Jahr absolvierte. Eine Akkordeonspielerin sollte an diesem Tag die älteren Menschen ein wenig unterhalten. Viele von ihnen summten die altbekannten Chansons mit („Je vois la vie en rooosee…“), es wurde sogar ein wenig getanzt. Doch Madame Merlot saß, wie gesagt, zurückhaltend in einer Ecke und schaute den anderen zu. Sie lächelte zwar auch, die Musik gefiel ihr. Aber so richtig zugehörig schien sie sich nicht zu fühlen.
Da ich neu war und damit auch noch nicht so ganz dazugehörte, und es als Freiwillige schließlich meine Aufgabe war, mich um die nicht-pflegerischen Bedürfnisse der Heimbewohner zu kümmern, setzte ich mich zu ihr. Schon nach den ersten paar Sätzen wusste ich: Diese Frau ist etwas ganz Besonderes. Ich weiß nicht mehr, was sie zu mir sagte. Ich weiß nur noch, dass ich sie gleich in mein Herz schloss. Sie war die warmherzigste, selbstloseste und gütigste Person, die ich je getroffen habe. Obwohl ihre 92-jährigen Augen nicht mehr so richtig sehen wollten, was direkt vor ihnen war, sah Madame Merlot das Leben umso klarer. Ihre Stimme zitterte leicht, wenn sie von ihrer Vergangenheit sprach. Trotzdem erzählte sie mir in den Monaten meines Freiwilligendienstes immer mehr von ihrem Leben auf der Insel La Réunion im Indischen Ozean, wo sie als junges Mädchen viel Pech in der Liebe hatte – und dennoch nie ihre Liebe für das Leben aufgegeben hat. Mit Mitte 20 kam sie nach Frankreich, und auch hier legten sich ihr immer wieder Steine in den Weg. Ich hatte mit meinen 18 Jahren noch nie ernsthafte Probleme gehabt – natürlich hielt ich damals meinen ersten Liebeskummer und die Scheidung meiner Eltern für große Tragödien. Aber eigentlich hatte ich keine Ahnung vom Leben.
Madame Merlot hat mir gezeigt, wie man nach einer Niederlage wieder aufsteht. Und weitermacht. Nie die Hoffnung verliert. Ihr Lächeln wurde für mich zum Inbegriff der Lebensfreude: Freude trotz Krankheit, Freude über die alltäglichen Kleinigkeiten, Freude über ein nettes Wort. Wenn ich eins von Madame Merlot gelernt habe, dann ist es Vertrauen. Vertrauen in das Leben. Vertrauen auch in Gott. In unseren vielen Gesprächen erzählte sie mir immer wieder, wie oft sie schon an Gott gezweifelt hatte. Aber er hätte sie letztlich nie im Stich gelassen. Man musste nicht gläubig sein, um von dem unerschütterlichen Vertrauen dieser kleinen, zierlichen Person umgehauen zu werden. Auch wenn es ihr noch so schlecht ging, auch wenn das Dasein im Altersheim noch so trostlos schien – sie konnte trotzdem lächeln. Sie wurde zu meiner zweiten Familie, zu meiner französischen Oma.
Ich weiß nicht, ob Madame Merlot noch lebt. Fast vier Jahre ist meine Zeit in dem Altersheim schon her. Irgendwann habe ich mich nicht mehr getraut, bei ihr anzurufen. Ich hatte zu viel Angst, eine Pflegerin würde mir sagen, sie sei von uns gegangen. Aber ich habe sie noch einmal besucht, vor zwei Jahren. Als sie mich sah, traten ihr Tränen in die Augen und sie lächelte. Allein für dieses Lächeln hat sich mein Freiwilligendienst gelohnt. Und ich werde ihr Lächeln immer in meinem Herzen tragen. Sie wird also nie ganz aus dieser Welt verschwinden.