Mein Freiwilliges Internationales Jahr in den Niederlanden
oder: Ein kleiner Ausblick vor dem Start
Das letzte Mal war ich 2015 in den Niederlanden. Damals habe ich vermutlich gesagt, ich wäre in Holland, wie ich fälschlicherweise angenommen hatte, denn die Niederlande bestehen aus zwölf Provinzen. Davon heißen lediglich zwei Holland: Noord Holland und Zuid Holland. 2015 war ich in keiner dieser Provinzen, sondern in Zeeland, dem Ort, an dem wir die Mehrheit unserer gemeinsamen Familienurlaube verbracht haben. Nahezu jedes Jahr wurden zwei Autos vollgepackt: Sämtliche Kinder, der Hund, Oma und Opa, gelegentlich auch Onkel, Tante und Cousin sowie das komplette Gepäck mussten für mindestens zwei Wochen in einer Ferienwohnung unterkommen.
Meine Liebe zu den Niederlanden wurde also schon früh geprägt. Vor allem meine Mutter ist von der Gastfreundschaft, de gastvrijheid, der Niederländer beeindruckt. Egal ob in einem Restaurant oder in den Geschäften – es werden zuerst die Kinder, dann der Hund und letztendlich die Erwachsenen begrüßt. Generell herrscht in den Niederlanden eine Art Grundstimmung, die sich sowohl in den Straßen, gesäumt von niederen Backsteinhäusern, mit großen Fenstern und schön dekorierten Fensterbänken in den Erkern, als auch in den Cafés und Geschäften widerspiegelt: de gezelligheid.
Fünf Jahre später, inzwischen habe ich mein Abitur hinter mir, stehe ich kurz vor dem Start meines Freiwilligen Internationalen Jahres (FIJ) in Amsterdam – dieses Mal also wirklich in Holland, in Noord Holland. Mit der Organisation Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) werde ich ein Jahr in meinem Projekt in Amsterdam verbringen. Dieses Mal werde ich die Niederlande allerdings nicht im Rahmen eines Urlaubs kennenlernen, sondern mehr oder weniger mit einer „Mission“.
So kurz vor der Ausreise sind meine Gefühle gemischt, obwohl ich „nur“ in Europa bleibe. Wie oft musste ich mir die Frage anhören, warum ich nicht einen „größeren“ Kulturschock und deshalb einen anderen Kontinent bereisen wolle. Die Antwort war und ist für mich relativ einfach zu beantworten: Ich habe mein Projekt nicht nur nach Lage und größtmöglicher Distanz von zu Hause ausgewählt, sondern vor allem nach der Sinnhaftigkeit. Work and Travel in exotischen Ländern kann beispielsweise toll sein, das muss jeder für sich entscheiden, aber für mich war es keine wirkliche Option. Nachdem ASF meine Bewerbung angenommen hatte, wurde ich zu einem Auswahlseminar eingeladen. Nach einer langen Anfahrt, quer durch Deutschland mit dem Zug, standen mir drei Tage bevor, von denen ich zuvor nicht wirklich wusste, was mich erwarten würde. Naja, im Optimalfall würde ich „ausgewählt“ und zu einem Projekt zugeteilt werden, so viel war mir klar. Eine Freundin, durch die ich auf die Organisation gekommen bin, meinte zu mir: „Das Wochenende ist ein bisschen wie eine Partnerbörse. Sie wollen dich kennenlernen und du willst ASF kennenlernen. Das Projekt und du sollten perfekt zusammenpassen.“ Mit diesem Gedanken wurde für mich alles deutlich entspannter. Stimmt, ich möchte ein tolles Projekt, in dem ich mich ein Jahr lang wohlfühle und ASF möchte zuverlässige, engagierte und glückliche Freiwillige. Was bleibt mir also anderes übrig, außer ich selbst zu sein und mich so gut es geht über mögliche Projekte und Einsatzländer zu informieren? Anscheinend haben wir gut „gematched“, denn etwa eineinhalb Monate später habe ich eine E-Mail von ASF erhalten, in der stand, dass ich in mein Wunschprojekt eingeteilt wurde!
Warum wollte ich nun lieber als Freiwillige in Europa bleiben und mich engagieren, anstatt ans andere Ende der Welt zu reisen und exotische Spezialitäten wie frittierte Heuschrecken zu genießen (was ich irgendwann möglicherweise auch noch tun werde)? Die Projektauswahl und die Grundstimmung beim Auswahlseminar haben mich überzeugt. Das Konzept, dass junge Menschen sich freiwillig in Europa für Pluralismus, Frieden und Demokratie einsetzen möchten scheint mir unbeschreiblich wichtig und sowohl für mich als Europäerin interessant und identitätsbildend. Die Möglichkeiten und den Austausch, den Europa bietet, sind nicht selbstverständlich. Viele Menschen vergessen das zu schnell. Meine Generation, gerade so alt wie der Euro selbst, ist mit offenen Grenzen und der europäischen Währungseinheit aufgewachsen. Die Freiheiten und Möglichkeiten, die diese beinhalten, scheinen für uns sehr selbstverständlich zu sein. Meiner Meinung nach kann genau diese Selbstverständlichkeit zur Gefahr werden, wenn wir sie uns nicht regelmäßig vor Augen führen. Natürlich gibt es nach wie vor Missstände und Konflikte – die gibt es immer. Wichtig ist es zu realisieren, dass diese Probleme am besten mit Solidarität und Teamwork gelöst werden können. Europa hat Potential, auch wenn manchmal unschöne Kompromisse eingegangen werden müssen. Das Potential ist da und wir müssen es nutzen. Jüngere Generationen haben die Verantwortung sich jetzt bewusst zu machen, wie sie sich für Europa einsetzen wollen. Keine Generation zuvor war vermutlich so gut vernetzt wie die folgenden Generationen – genau diese Vernetzungen können, zusammen mit Motivation und Wissensdurst, gemeinsam Früchte tragen. Vielen jungen Menschen sind lediglich ihre Möglichkeiten, ihre Rufweite und ihre Stärke nicht so bewusst, wie sie sein sollten.
Wir sind gebildet, wir sind vernetzt und wir sind interessiert – was kann uns also aufhalten?