McEVS - Beweisen Sie Geschmack!
„Killed or filled time?“ Warum ein EVS nicht wie ein Hamburger bewertet werden kann und Angestellten von Fastfoodketten ein Freiwilligendienst guttun würde.
"EVS- Killed time or filled time?"
Wie bitte? Ist das wirklich eine Frage nach meinem Freiwilligenjahr? Klingt eher nach einer grinsenden jungen Frau mit rot-gelbem Papierhütchen:
„Mit oder ohne Füllung? Darf es noch eine Tüte Pommes sein, dann bekommen Sie den DoubleMac zum halben Preis im Maxi-Menü dazu!“
Killed time.
Der Ausdruck könnte von einigen meiner ehemaligen Mitschüler kommen. Sie machten nach dem Abi nur kurz Halt, um ihre Stark-Lernhefte aus den Taschen zu werfen; dann rannten sie schon weiter in Uni-Hörsäle und sammelten neue Papierstapel und Bücherberge an. Mit einem bemerkenswerten Feingefühl für die Anforderungen, die unsere Gesellschaft an uns stellt, geben sie ihr Bestes, Schnellstes, Effektivstes: Sie arbeiten, leisten, erfüllen Pflichten, erklimmen die ersten Sprossen der Leitern, die sie als ihre Karriere auserwählt haben, sammeln „Credit Points“, „Social Skills“, „Intercultural Competences“ und was Studiengänge der Elite von morgen sonst noch bieten können. All diesen unwiderstehlichen Lebenslaufschnörkeln jagen sie nach, während eines ganz sicher keinen Platz in ihrem Terminkalender findet: Killed time.
Stünde die Eingangsfrage auf ihrem Prüfungsbogen, würde ihr Kreuz ganz sicher hinter ersterem landen. Schließlich stecke ich schon sechs Monate lang meine Energie in ungarische Kindergartenkinder und habe für meine Leistungen noch nicht einen Punkt, für meine Mühen noch nicht ein Zertifikat, für meine ganze Zeit noch nichts erhalten, das mir Ansehen und begeistertes Schulterklopfen von potentiellen Arbeitgebern verspricht. Was für ein unökonomischer Umgang mit meinen wertvollen Lebensjahren!
Und Filled time?
Die Füllung eines EVS ergibt sich in der romantischen Vorstellung der Liebhaber von „Goodbye Deutschland“ und anderen Auswandererserien wohl ungefähr aus folgenden Zutaten: Man nehme einen großzügigen Löffel elternloser bzw. auf Grund ihrer Herkunft ausgestoßener Kinder oder nach Belieben andere am Rande der Gesellschaft stehende Gruppen. Über diese Schicht wird gönnerhaft eine Scheibe kreativer Projekte und Organisationen gelegt, deren Impulse und Ideen jedes Problem aus der Welt schaffen, die ganze Situation um 180° wenden, jedes Vorurteil ab- und unzählige Tageszentren aufbauen, kurzum: ein einzigartiges Geschmackserlebnis, voller Sinn und Energie!
Wo ist der Haken? Man darf der Dame mit dem rot-gelben Hütchen nicht alles glauben; sie will schließlich ihre Ware an den Mann bzw. die EU bringen. So mancher Freiwilliger erinnert sich jetzt vielleicht lächelnd an die „Projektbeschreibung“, die er vor seiner Abreise vorgesetzt bekam. Wie lief uns das Wasser im Mund zusammen... Doch kaum entfernt man die dekorative Folie, hat das Ganze manchmal nicht mehr besonders viel Ähnlichkeit mit den anfangs angepriesenen Produkt: Oft entpuppt sich das interkulturelle Theaterprojekt als wöchentlicher Fernsehabend, der „kreative“ Job im Kindergarten überrascht mit Putzlappen und Kartoffelschälern und das „kunterbunte Tageszentrum für Jugendliche aller Schichten“ bietet den Jugendlichen aller Schichten Internet und angereisten Freiwilligen einen Arbeitstag ohne jede Aufgabe.
Erteile ich gerade dem EVS eine Rundum-Absage?
Nein. Was ich verurteile, ist: dass man unseren Freiwilligendienst mit dieser Frage wie einen BigMac behandelt. Dass es überhaupt in unserer Gesellschaft üblich ist, alles aus ökonomischem Blickwinkel zu betrachten. Immer leben wir FÜR etwas. Um etwas zu erreichen. Alles -auch ein EVS- muss einen sinnvollen Platz in unserer Lebensplanung einnehmen neben Pommes, ChickenMcNuggets und einem Becher Limo. Das Preis-Leistungsverhältnis muss genauso stimmen wie Kalorienzahl und Ballaststoffreichtum. Wir setzen diese vorgegebenen Maßstäbe ohne zu überlegen an unser Leben an und ziehen meist das bequeme, von der freundlichen Bedienung angebotene Menü dem individuell zusammengebastelten Lebensplan vor.
Hier beginnt die echte Auseinandersetzung mit dem Freiwilligendienst, denn Freiwilliger zu sein bedeutet, sich Gedanken zu machen. Freiwillige nehmen NICHT das Menü mit den verlockenden Extras (schneller! höher! weiter!): EVS ist weder killed, noch filled time, es ist eine Lebensweise.
Was macht ein Freiwilligenjahr anders als andere? Was macht einen Freiwilligendienst zu einer Zeit mit anderen Maßstäben, mal abgesehen davon, dass allein die Entscheidung, ein Jahr dafür zu nutzen, schon gängigen „Lebensplänen“ widerspricht?
Anti-Konsum. Der Weg als Freiwilliger beginnt mit Zurücklassen: den vertrauten Kreis von Menschen, in dem man eine bestimmte Rolle innehatte, den eigenen Kulturkreis, in dem man selbst 100%iges Mitglied der Gesellschaft ist, die Aufgaben und Freizeitaktivitäten, die einem zu Hause ein Stück Selbstbestätigung und -erfüllung gaben; auch seine sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten gibt man ab (zumindest wenn das Ziel so exotisch wie Ungarn ist...) und wird stumm und taub auf einmal. Kurzum: Man lässt ziemlich viel von sich selbst zu Hause. Das Interessante ist, was dann von einem übrig bleibt. Hoffentlich nicht allzu viele Ansprüche, denn Freiwilligenleben bedeutet auch:
Anti-Komfort. Freiwillige verdienen nicht materiell an ihrer Arbeit, sie werden „versorgt“: mit „Taschengeld“, das anstelle eines Gehalts auf ihr Konto fließt und mit authentischen Einblicken in die Landesküche (d.h. exklusivstem Kantineessen in der Arbeitsstelle, die für das leibliche Wohl des Freiwilligen zu sorgen hat). Die Unterkunft sieht normalerweise auch nicht gerade aus wie aus einem Ikea-Katalog geschnitten und nicht selten teilt man sich nicht nur die Wohnung, sondern auch ein Zimmer. Man gibt ein Stück Selbstbestimmung und auch den gewohnten Lebensstandard auf. Nicht umsonst heißt es nicht EVW (European Voluntary Work): Das S in EVS heißt „Service“, also Dienst.
Also auch Anti-Ego. Freiwillige geben ihren Status auf, was auch immer sie vorher für Tätigkeiten ausübten und von wem auch immer sie Anerkennung erhielten. Plötzlich geht es nicht mehr um das, was für SIE herausspringt- sie sind für Andere da. Man findet sich mit einem Löffel und einem behinderten Kind wieder, das offensichtlich nicht gefüttert werden will. Man bekommt einen Eimer und einen Lappen in die Hand gedrückt und die Instruktion, wo sich die Kindergartentoilette befindet. Man kämpft einsam mit einem Brötchenberg und einem Eimer Schmalz in der Küche des Obdachlosenheims. Das sind Tätigkeiten, die man sich nicht aussuchen würde, und Tätigkeiten, für die man wahrscheinlich auch nicht, von heroischen Taten träumend, seine Koffer gepackt hat.
Doch wo man Dinge abgibt, ist man offen und frei für Neues, wo man mit wenig auskommen muss, ist Platz für Kreativität, und wo man gibt, bekommt man unheimlich viel zurück... Das ist EVS.
EVS klingt wie in fünf Sprachen durchquatschte Nächte, wie Roma-Musik von einer Gruppe Westeuropäer gesungen, wie ein vor Belustigung über meine Aussprache laut giggelndes Kind, wie Straßenlärm vor dem Hochhausfenster, wie still demonstrierende Ungarn bei Nieselregen,
EVS riecht wie ein bei Nebel einfahrender Zug, wie ein Berg Zwiebeln um 7 Uhr morgens in der Kindergartenküche, wie Obdachlose, die ihre Nacht mit Schnaps vor unserer Haustür verbrachten, wie eine regelmäßig das Bad überschwemmende Waschmaschine, wie der vierjährige Gergö, nachdem er das entscheidende Tor geschossen und sich in eine Matschpfütze hat fallen lassen,
EVS fühlt sich an wie ein Gewitter über dem einsamen Heldenplatz, wenn gerade alle Touristen in ihre Busse geflohen sind, wie ungarischer Volkstanz zu Shakiras Waka-Waka, wie ein Rucksack, in den man alles gepackt hat, das man in 11 Monaten gebrauchen könnte, wie eine lange Umarmung von einer Vierjährigen, wie ein aus dem Sandkasten gefischtes Langenscheidt-Wörterbuch,
EVS schmeckt nach Klebestift an Kinderfingern, nach Pfannkuchenbergen auf einem wackligen WG-Tisch, nach von einem Spanier aus ungarischem Wein gemischtem Sangrilla, nach algigem Balatonwasser, nach einem großen Stück von Lillas schokoladigem 5. Geburtstag, nach Paprika natürlich, nach Entscheidungen, nach Inspiration, nach interkulturellen Fallen, nach Initiative, nach Überraschung, nach Stolz, nach zusammengebissenen Zähnen, nach Abenteuer, nach Freundschaft, nach Ideen, nach Träumen - nach mir.
EVS macht satt!! Das ist die Antwort.
EVS macht Lust! Sich zu engagieren, weiter zu reisen, mehr zu entdecken. EVS macht europäisch! Denn plötzlich haben die Länder Gesichter und die Nationalitäten Stimmen - von Freiwilligen, mit denen ich koche, wohne und die Nächte durchtanze. EVS macht stark! Denn hier habe ich nur MICH und meine Maßstäbe für Entscheidungen. EVS macht reich! An Erfahrungen, Wissen, Freundschaften und Sichtweisen.
Klingt das nach BigMac? Klingt das nach killed, filled, nach Pommes und Maximenü?
Ich kann der Dame mit dem rot-gelben Papierhütchen und den seltsamen Ansichten über unser Dasein nur eines raten: In einem EVS herauszufinden, wie das Leben wirklich schmeckt.
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