Liebe Laura,
Meine Freundin, meine Begleiterin, meine Diskussionspartnerin, lass uns mal wieder spazieren gehen.
Der Abend ist noch früh, trotzdem bereitet schwere Dunkelheit der Nacht den Weg. Laura bindet ihre kurzen blonden Haare zu einem Zopf, zieht mich, die noch ihre Briefe und Gedanken sortiert, in den Flur und drängt zur Eile. Ich nehme meinen Mantel und Abschied von Monika, die heute im Gottesdienst Ruhe sucht.
Unsere Winterstiefelfüße sind laut im hallenden Treppenhaus, geben unserer nächtlichen Lebensfreude ein Geräusch. Ich springe über die letzten Stufen und die geeiste Pfütze vor der Tür.
Minuten später liegen wir nebeneinander auf der Fontanka, eingebettet zwischen Cafézeilen und geschlossenen Museen, und wünschen uns ein Lied, das unsere Gefühle beschreiben könnte. Wir versuchen uns mit einigen russischen Volksliedern, mit Camera Obscura und Boys, aber wir singen schief und der Schnee nässt unsere Jeans. Laura hat Lust, zu springen, Versuche, das Eis unter uns zu brechen misslingen.
Wir sind bei der Hälfte, sage ich, und erst ausgesprochen verstehe ich meine Worte. Bei der Hälfte des Flusses, bei der Hälfte der Schokolade, bei der Hälfte des Abends, plappert Laura und lächelt.
Nein, jetzt ist unsere Heimkehr näher als unsere Ankunft, antworte ich. Ich möchte ernst sein jetzt unter den Sternen, auf dem reflektierenden Eis, und nur noch bis zur Brücke laufen, weil ein Spaziergang auf dem Fluss anstrengt und mein Kopf überläuft vor Gedanken, ausgelöst durch diesen einen.
Kannst du dich erinnern, wir haben an unserem ersten Abend Gin getrunken in der Küche, haben uns fremd und erwachsen gefühlt. Wir haben ernst gesprochen, uns über die Zukunft unterhalten und über die Gegenwart, über den Moment, die Wohnung, über uns.
Tage vergingen, ich habe geweint im Bus über das Neue und Fremde, über mein Nichtverstehen und meine Angst. Tage vergingen, wir haben mit Männern getanzt und mit uns und besonders mit dem Leben.
Sag mir, wie viele Gespräche hatten wir? Wie oft waren wir mutlos und erschöpft und wie oft froh über den Moment? Kannst du mir sagen, welche Gefühle überwogen haben? Laura, hörst du mir überhaupt zu?
Wir nehmen den Weg nach links durch die Hinterhöfe, weil wir uns zu zweit nicht gruseln und es hier so schön ist.
Laura lässt warten, die Worte fließen an diesem Abend nicht, sagt sie, sie wird traurig bei der Vorstellung, dass schon so viel Zeit vergangen ist.
Die Menschen sammeln sich vor den Eingängen und die kleineren Straßen leeren sich. Ich möchte noch ein wenig weiter laufen. Die Zeit verrinnt, aber wenn die verrinende Zeit nicht als etwas erscheint, das verbraucht, sondern als Vollendung, dann kehre ich reicher zurück nach Deutschland. Ich denke an die Kinder, an Stunden, so zahlreich wie die Sterne über uns, die wir uns gegenseitig geschenkt haben. Vielleicht, weil jetzt Februar ist, also ein halbes Jahr nach September und vielleicht auch des Augensblicks wegen, werden meine Gedanken schwerer und tiefer als gewollt. Diese Zeit fernab von allem, was ich kannte, hat mir sehr viel gegeben. Hat mich mich selbst kennen lernen lassen. Vielleicht habe ich Freundschaften aufgebaut, die mir immer etwas bedeuten werden und vielleicht habe ich sogar gelernt, bedingungslos zu lieben.
Laura und ich müssen lachen, weil wir uns immer beim Anblick gesunder Kinder wundern müssen. Weil laufen, sprechen, lachen für uns schon längst nicht mehr selbstverständlich ist und weil wir uns über jede Reaktion unserer besonderen Kinder freuen. Besondere Kinder. Hier wird sehr selten der Begriff "behindert" in den Mund genommen, behindert bedeutet eingeschränkt und falsch und abnormal.
Immer wieder muss ich mein Menschenbild korrigieren, zurechtrücken, und mich selbst von meinem deutschen und politisch korrekten auf den russischen Boden setzen.
Ich stampfe ein bisschen mit den Füßen. Ich muss meine Zehen wieder spüren, um weiter zu laufen. behindertsein ist wie ein eingeschlafenes Bein, denke ich, du willst, aber es bewegt sich nichts.
Wir kehren ein bei einer Freundin, es wird kalt und wir freuen uns auf den versprochenen Tee. Am Tisch reden wir weiter über die Tage und diskutieren uns in den Morgen.
Heute möchte ich gerne alleine nach Hause laufen. Meine Musik begleitet meine Gedanken, ich frage mich nicht, ob diese Zeit hier sinnvoll ist. Mein Kopf ist jetzt nicht gefüllt mit Sätzen, mit Worten, sondern mit Gefühlen, ein wenig mit Vorfreude. Aber es breitet sich vor allem eine warme Zufriedenheit in mir aus: Dieses Jahr ist ein Teil meines Lebens und ein Teil von mir. Ich werde weiterleben mit den Erfahrungen und den Bildern im Herz, die mir die Zeit hier gegeben hat.
Dicker Schnee fällt über mir, ich beeile mich, durch unseren Hof und unser Treppenhaus zu gehen, und lege mich in die Kissen, die sich mittlerweile nach zuhause anfühlen.
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