Leere und Lehre
Ein Resümee
Es erwuchs ein Desiderat, das umso größer zu werden schien, je mehr Texte kamen, die allesamt Erlebnisse schilderten, fast nie jedoch den Alltag erwähnten. Es wäre schön gewesen, hätte ich mich tatsächlich nur jenen Dingen widmen können, von denen man auf meinem Blog so liest. Im Grunde waren die Texte nur ein Beiprodukt. Was ich unter der Woche, von acht bis fünf machte, blieb im Verborgenen, war es doch auch nie wirklich außergewöhnlich. Und dennoch kann man es nicht verschweigen, denn eindrücklich war die Zeit allemal.
Zuallererst sei näher erläutert, „was“ ich eigentlich war, denn das wusste ich lange Zeit selbst nicht. Vor meiner Ankunft in Tschechien war nicht endgültig geklärt, inwiefern ich mich schlussendlich engagieren werde. Suboptimal, ich weiß. Ich hatte Kontakt mit meiner Vorgängerin, die mir einiges erzählte; dennoch war es in gewisser Weise wie ein Wechsel des Arbeitsplatzes. Man kennt den Ort, die Branche, das Gehalt, doch was genau auf einen zukommt, würde sich erst in den ersten paar Tagen bis Wochen herausstellen.
Ich war ein Lehrerassistent und arbeitete in direkter Absprache mit dem Lehrer. Da ich weder über die Ausbildung noch die Erfahrung verfügte, würde ich mich allerdings höchstens der Einfachheit halber „Lehrer“ nennen. Einen konkreten Lehrauftrag hatte ich nicht und bezahlt wurde ich schließlich auch nicht annähernd so gut wie ein Lehrer, das darf man nicht vergessen. Was machte ich also? Meist fragte ich die Lehrer des Folgetages, was sie momentan mit ihren Klassen behandelten und inwiefern ich sie dabei unterstützen könnte. Dann kamen ein paar Vorschläge zurück, von denen ich einen auswählte und diesen Themenbereich für die kommende Stunde vorbereitete. Am nächsten Tag ging ich dann in die Klassen und gestaltete einen Teil des Unterrichts mit der Aktivität, die ich vorbereitet hatte. Zeitlich konnte sich das von 5 bis 45 Minuten in einer Schulstunde erstrecken. Im Krankheitsfall einer Kollegin kam es nämlich auch schon mal vor, dass ich ganze Unterrichtsstunden halten musste. Das entsprach zugegebenermaßen nicht mehr meinem Profil, da ich darüber hinaus keine Ahnung von Didaktik habe, von Zeit zu Zeit war es in Fächern wie Deutsch und Englisch jedoch für beide Seiten in Ordnung.
Man gerät in so manche neue Situation, zumal man als Schüler früher kaum einen Einblick in die Welt der Lehrer hatte. „Welt der Lehrer“ klingt mystischer, als sie eigentlich ist. Es sind auch nur Menschen, die Kaffee trinken, Zeitung lesen und über die letzte Reise reden. Früher, als man noch selbst Schüler war, war die Türschwelle zum Lehrerzimmer wie eine unüberwindbare Barriere. Man wurde nicht erschossen, trat man ein, doch mit Blicken gestraft und sofort wieder hinaus eskortiert. An meiner Schule in Tschechien genoss ich stattdessen gleiche Rechte wie alle anderen Lehrer. Gewiss war so manche Aushilfskraft, die mich nicht kannte, anfangs erstaunt, als sie mich sah, könnte ich doch glatt noch als Schüler durchgehen, allerdings war die Atmosphäre nie abweisend.
Man entwickelte eine andere Sicht auf die Dinge. Dauerhaft löste man Probleme, für die die Schüler verantwortlich waren. Neulich wurden vier Schüler des Schwimmbads verwiesen, weil sie in den Umkleiden randaliert haben. Die Schüler waren sieben Jahre alt. Das Personal des Schwimmbads war jedenfalls wenig amüsiert und erteilte den Rabauken Hausverbot für den Rest des Monats. Sie hätten in den Duschen den Wasserablauf blockiert und dadurch einen künstlichen See innerhalb des Duschraums geschaffen. Dann hätten sie sich gegenseitig mit Handtüchern geschlagen und viel Lärm verursacht. Das alles passierte, während ich nicht da war. Da ist man einmal nicht am Aufpassen und schon artet alles aus. Ich hatte zwar edle Gründe für meine Abwesenheit – einmal war ich bei einem Seminar in Vrchlabí, einmal in Hradec Králove als Juror bei einem Sprachwettbewerb –, aber an der Lage änderte das nichts. Der Vorfall musste von biblischem Ausmaß gewesen sein, was ich aus der Art und Weise schlussfolgere, wie mir die frohe Botschaft überbracht wurde. Aufgrund der Sprachbarriere bekam ich die Informationen selten direkt, sondern meist über eine Mittelsfrau, sodass auch nur ein Teil der Informationen und Stimmungen überbracht werden, die die Nachricht ursprünglich innehatte. Zudem es in diesem Fall auch noch die Mittelsfrauen im Schwimmbad gab. Die Nachricht kam also von den Angestellten im Schwimmbad, wurde an die Schwimmlehrerin weitergegeben, die diese schließlich meiner Koordinatorin mitteilen konnte, welche mir endlich sagen konnte, was passiert war.
Auch sonst wurde es nie langweilig als Lehrer. Es passierten immer wieder unvorhergesehene Dinge. Im Sportunterricht wurde kürzlich Basketball gespielt. Was kann da schon schiefgehen? Nun, das Resultat waren vier Schülerinnen, die mit Verband in der nächsten Sportstunde erschienen. Diagnose: Finger gestaucht oder gebrochen. Dann hatte sich das mit dem Basketball eben wieder erledigt. Die Schule an sich glich in der sportlichen Hochsaison ohnehin mehr einem Lazarett als einer Lehranstalt. Ob nun beim Fußball oder Skifahren – gebrochene Beine, verdrehte Knie und gerissene Sehnen waren omnipräsent. Es gab kaum eine Klasse, in der keiner mit Krücken ging. Beim exzessiven Praktizieren von Sport ist dies allerdings auch unvermeidlich. Wettkämpfe werden schließlich nicht auf dem Sofa gewonnen.
Negative Erfahrungen wie die im Schwimmbad oder beim Sportunterricht waren eher selten; meist waren es positive Erlebnisse, die den Alltag bestimmten. Als Lehrer hat man viel Freiheit. Eine einen manchmal zerreißende Ambivalenz. Denn am Ende des Tages sollte man den Schülern etwas beigebracht haben. Überfordert man sie, so hat man dagegen ebenso wenig davon. Es gilt, wie immer die goldene Mitte zu finden, wo auch immer diese liegen mag. Im besten Fall gefällt es den Schülern dann auch noch. Ich schätzte an meiner Arbeit als Lehrer, dass ich den Schülern nicht hinterherlaufen musste, was mich grundlegend von Projekten unterscheidet, bei denen nicht nur der Leiter, sondern auch die Anwesenheit freiwillig ist. Soll heißen, dass ich stets eine Gruppe habe, mit der ich arbeiten konnte. Klar kann diese Konstanz auch anstrengend sein. Als Lehrer kann man sich nicht hinsetzen und lesen oder am Mobiltelefon herumspielen, wenn man gerade keine Lust auf Arbeit hat. Die Schülerschaft hat eine ständige Erwartungshaltung, die man zu erfüllen hat, andernfalls würde man inkompetent wirken. Dieses zweischneidige Schwert ist manchmal wunderbar, manchmal zum Verrücktwerden. Doch wenn man von der zeitweiligen Überforderung absieht, ist es eine Gnade für jeden, der etwas erreichen möchte. Die Schulpflicht ist letzten Endes mein Garant für eine gleichbleibende und hohe Teilnehmerzahl. Ob die Schüler meine Hilfe dann annehmen oder nicht, liegt nicht mehr in meiner Hand.
Die ersten Wochen waren noch entspannt. Mit den Sportstunden sollte erst im Oktober begonnen werden, folglich hatte ich dienstags, mittwochs und donnerstags schon früher als vorgesehen Feierabend. Das war eine angenehme Zeit, in der ich produktive Nachmittage abhalten konnte. Ich hatte genug Zeit für Sport, Freizeitaktivitäten, auch den Blog hier. Jeden Morgen stand ich um halb sechs auf, rannte den Berg hinauf, um die erwachende Stadt zu sehen, bevor ich den Berg wieder hinunter lief, mich daheim duschte, frühstückte, in die Schule ging und arbeitete. Heute dagegen – es ist mir selbst schleierhaft, wie das funktionieren konnte. An solch frühes Aufstehen war schon bald schon nicht mehr zu denken. Das Laufen musste ich auf abends verschieben, was auch nicht schlecht war, mir aber weiter Zeit raubte. Dass das Projekt nur die vordergründige Pflicht ist, ist das einzige Arrangement, das es einem ermöglicht, überhaupt noch etwas nebenbei zu schaffen, auf das man zurückblicken kann. Dennoch nahm das Projekt zunehmend mehr Zeit in Anspruch, was schade ist, denn es machte weitere Einschnitte in den ohnehin schon unfreien Alltag nötig.
Dann kam die große Meningitis-Welle. Eine Krankheit, die ich vorher nicht kannte. „Hirnhautentzündung“ sagte mir schon eher etwas, doch auch nur vage. Jedenfalls war ich noch nie daran erkrankt und ich hatte auch nicht vor, dass sich daran etwas ändert. Nun war ich als Lehrer gezwungen, täglich Hunderten Menschen zu begegnen. Was blieb mir jedoch anderes übrig, als weiterhin zur Arbeit zu gehen? Ich wusch mir eben so oft wie möglich die Hände, was gegen Ende der Krankheitswelle eher den Gang zum Dermatologen als ins Krankenhaus nötig machte. Zudem brachte es mir den Titel des Sauberkeitsfanatikers ein. Die anderen Lehrerinnen erkundigten sich bei meiner Koordinatorin, ob meine Eltern Ärzte seien, weil ich mir vor dem Zubereiten des Kaffees im Lehrerbüro die Hände gewaschen hätte. Ich erkrankte schlussendlich nicht, jedoch waren die Klassen merklich ausgedünnt. Das machte das Lehren angenehmer, obgleich man nicht allzu schnell fortschreiten konnte mit dem Lehrstoff, um den erkrankten Schülern noch eine Chance zu lassen, aufzuholen.
In den ersten Wochen bis Monaten war noch nicht endgültig geklärt, wie die Zusammenarbeit aussehen würde. Ich suchte mir irgendwie mein Material zusammen – aus heutiger Sicht in recht unprofessioneller Weise. Damals störte es eben keinen und man ließ mich walten. Alle Seiten fanden es in Ordnung, für den Anfang annehmbar. Es war mir auch nicht möglich, es anders zu handhaben. Zwar hatte ich meine Koordinatorin an der Schule, aber diese war ja selbst als Vollzeitkraft tätig. Ihre Zeit war folglich begrenzt. Anfangs saß ich viele Stunden nur herum, beobachtete – mehr aus Langeweile –, was die Lehrerin so erzählte. Selbst im Englischunterricht wurde Tschechisch gesprochen, in allen anderen Fächern, die ich unterrichtete, ebenfalls. So war diese Episode recht eintönig, doch je mehr ich zuhörte, desto mehr Wiederholungen fielen mir auf. Ich überlegte mir, was es wohl bedeuten konnte und prägte mir auf diese Weise meine ersten paar Fragmente Tschechisch ein.
Um die Sprache zu lernen, ist das natürlich super. Weniger hilfreich ist es, wenn man eigentlich auch die Lehrtechniken studieren sollte. Man hat ja eine grundlegende Vorstellung davon, wie man Unterricht macht. Was einem fehlt, ist die Erfahrung. Das Wissen darüber, wie viel man den Schülern zumuten kann. Wie falsch man hierbei liegen kann, musste ich in den nächsten Wochen zuweilen schmerzlich erfahren. Man steht dort vorne und schaut zu, wie eine 15-Minuten-Aktivität eine ganze Schulstunde zu dauern droht und kann nichts machen. Die Schüler arbeiten nicht schneller, wenn man herumläuft und kritisch beäugt, was sie so fabrizieren. Erst recht nicht, wenn man “nur“ ein Freiwilliger ist, bei welchem man zumindest in den ersten Monaten unerkannt auf Tschechisch sprechen kann, ohne dass er es versteht. Zumal ich anfangs keine Benotung vornehmen durfte. Später erlangte ich die Autorität, auch Noten zu verteilen. Damit wendete sich das Blatt. Ich hatte nun zumindest ein bisschen mehr Kontrolle über das Arbeitsverhalten der Schüler.
Mein Stundenplan war indes wie auch der Berliner Flughafen ständigem Wandel unterworfen. Manche Leute sehen die Veränderung als Garant einer Zukunft, doch manchmal, da braucht es einfach ein wenig Konstanz. Begonnen wurde mit einem vorläufigen Stundenplan. Die Stunden waren horizontal geordnet, was anfangs verwirrte, war man aus Deutschland die vertikale Anordnung gewohnt. Das war aber nicht das Problem. Stattdessen standen bei manchen Unterrichtsfächern drei Lehrerinnen. Ich fragte, was das zu bedeuten habe. „Die konnten sich nicht einigen, wer dich nimmt, also bist du bei allen drei.“, sagte meine Koordinatorin. Das erschien mir nicht als optimale Lösung. Den Lehrerinnen im Übrigen auch nicht, denn ich konnte mich so nie auf eine Klasse konzentrieren. Der Stundenplan sah vor, wöchentlich durchzuwechseln. In der Zwischenzeit war die Klasse dann schon viel weiter und ich konnte den Unterricht nie direkt begleiten, sondern war eher so etwas wie der Abteilungsleiter, der alle paar Tage mal herumläuft und vorbeischaut, jedoch nie dauerhaft bei einer Person oder Gruppe bleibt. Insgesamt waren dann drei Varianten des Stundenplans möglich. Das ging ja noch. Kompliziert wurde es, als ich den Wunsch äußerte, Kunst zu unterrichten. Es war nicht einmal wirklich ein Wunsch, sondern mehr eine beiläufige Bemerkung, die von meiner Koordinatorin dann allerdings unerwartet stark beantwortet wurde. Ich hatte mit zwei Stunden pro Woche gerechnet und bekam stattdessen sechs. Da diese mit den anderen Fächern interferierten, wurde eine neue Kategorie eingerichtet: das Kalenderwochenprinzip. In der Folge musste ich auf die Kalenderwoche achten und je nachdem, ob die Zahl gerade ungerade oder gerade ist, würde es sich um eine Sprachen- oder Sport-Kunst-Woche handeln. Jedoch differenzierte dieses System nur zwischen gerade und ungerade, die Abfolge änderte sich daher wöchentlich. Im Sprachunterricht war ich jedoch bei drei Lehrerinnen. Das konnte also nicht funktionieren. Als mir der neue Stundenplan präsentiert wurde, glaubte ich, das sei ein Witz. Sechs verschiedene Stundenpläne? Da blickt doch keiner mehr durch. Leider war es kein Witz. Ich begann damit, meine Gedanken und den Stundenplan zu ordnen. Ich gliederte die Wochen und fortan würde es eben nicht mehr gerade und ungerade, Sprachen- und Sport-Kunst-Wochen geben, sondern 1A-, 2B-, 1C-, 2A-, 1B- und 2C-Wochen. Ich übertrug die sechs Stundenpläne in eine Tabelle und hing sie an die Wand. Sie reichte von meinem Rechner bis fast zur Decke.
Am wenigsten blickten die Lehrerinnen selbst durch, was dazu führte, dass ich von allen mit mir arbeitenden Lehrerinnen auf dem Gang angesprochen und gefragt wurde, ob ich denn heute mit ihnen Unterricht hätte. Es war auf den ersten Blick die einzige Möglichkeit, alle Wünsche unterzubringen. Den der Lehrerinnen, ich solle doch bei ihnen sein, der von mir, vermehrt Sprachen und Kunst zu unterrichten und den der Organisation, die dagegen hält und sagt, ich solle mehr Sportunterricht geben. Das Ergebnis war ein Kompromiss – die schlechteste aller Lösungen. Beim Finden eines Kompromisses entsteht nie etwas Neues, sondern eine Rekombination des Vorhandenen. Wie Henry Kissinger zu sagen pflegte: „Ein Kompromiss ist nur dann gerecht, brauchbar und dauerhaft, wenn beide Parteien damit gleich unzufrieden sind.“ Beim Kompromiss ist Missfallen vorprogrammiert, anders beim Konsens. Dazu hätten sich alle Parteien an einen Tisch setzen sollen. Das ist jedoch nie geschehen. Stattdessen ist es wie bei einem Buchsbaum. Der erste Gärtner schneidet ihn zurück, seinem Chef gefällt es ganz und gar nicht, er legt selbst Hand an, am Ende kommt wieder der Gärtner und versucht, die Missgeschicke des Chefs zu korrigieren, bis am Ende nichts mehr vom Buchsbaum übrig ist. So ist es auch beim Sujet des Stundenplans. Jeder zerrt an ihm, bis er zerreißt und am Ende nur noch aus Fetzen besteht, mit denen sich nichts mehr anfangen lässt.
Der Übergang von dieser Eingewöhnungsphase in die ernste war mehr oder weniger fließend und nicht in jedem Fach gleich. So stand im Deutschunterricht ziemlich schnell meine Rolle fest, während Englisch eine Baustelle blieb, die ich zusammen mit den Lehrerinnen zu bewältigen versuchte. Der Anspruch ist ein anderer als in Deutschland. Wir schimpfen oft auf unsere Englischkenntnisse, dabei haben wir an den Gymnasien ein spürbar höheres Niveau. Unsere Herangehensweise ist eine komplett andere. Wenn es auch kleine Details hie und da sind, so ergeben diese in ihrer Gesamtheit eben doch einen ganz anderen Unterricht. Was ist anders in Deutschland? Nun, da gibt es viele Dinge. Wir schreiben in den Vokabeltests ganze Sätze und haben einen Notenspiegel, der weniger heterogen ist. Einsen gibt es im Übrigen nur bei absoluter Fehlerfreiheit – und nicht bei 36 von 40 Punkten. Primär fand der Englischunterricht in Deutschland zudem auf Englisch statt. Man durfte – auf Englisch versteht sich – nachfragen, ob es der Lehrer nochmal auf Deutsch wiederholen könnte, wenn es um Arbeitsanweisungen ging. In Tschechien ist das hingegen die Regel, sodass die Schüler gar nicht zuhören, wenn die Lehrerin auf Englisch beginnt, weil sie sich sagen: „Die wiederholt das sowieso gleich auf Tschechisch.“ Wer kann es ihnen schon verübeln? Das ist Effizienz, wenn auch keine besonders ertragreiche. In den unteren Klassenstufen mag es gerechtfertigt sein, bei Grammatik sowieso, doch in der neunten Klasse? Man schickt diese Kinder auf die weiterführende Schule, ohne einen Satz Englisch herauszubekommen. Ich sprach im Englischunterricht konsequent Englisch. Dass die Schüler davon nicht sonderlich begeistert waren, versteht sich von selbst. Es war für sie schlichtweg unnatürlich und anstrengend. Dennoch war es der einzige Ausweg.
Die Komplexität war der Dreh- und Angelpunkt meiner gesamten Tätigkeit. Ich unterrichtete von der ersten bis zur neunten Klasse alles. Deutsch in fünf Klassen, Englisch in dreizehn, Sport in fünf und Kunst in drei. Sechsundzwanzig Kurse, teils dieselbe Klasse in anderen Fächern, aber dennoch eine Unzahl an Schülern, an Niveaus, die es zu treffen gilt. Was für mich am schwierigsten war, war es, sich dieser Unterschiede bewusst zu werden und mein Verhalten entsprechend anzupassen. Oft war mein Englisch zu „kompliziert“, meine Arbeitsblätter zu schwierig, meine Tests hingegen zu leicht. Das klingt, als ließe es sich einfach beheben, doch dem ist nicht so. Wo fängt man an, wo hört man auf? Da ist sie wieder, die goldene Mitte.
Es ging recht zügig weiter, schließlich mussten vor dem Halbjahreszeugnis noch die letzten Noten verteilt werden. Das lief ebenfalls ein wenig anders als in Deutschland ab. Über das Notensystem könnte man ewig philosophieren. Kurz zur Erläuterung: Das Spektrum reicht von 1 bis 5, wobei 1 die beste und 5 die schlechteste Note ist. Schaut man sich die Notenverteilung in Deutschland an, so folgt diese in etwa der Gaußschen Normalverteilung. Es gibt immer ein paar Schüler, die eine glatte Eins haben und ein paar verlässliche Fünfer- und Sechserkandidaten. Dazwischen gibt es alles. Die Notendistribution in Tschechien ist deutlich verschoben. Es hagelt Einsen, dass es kracht, ein paar Zweien auch, die Drei ist schon eine Katastrophe und wenn man gar eine Vier oder Fünf hat, dann ähnelt das in etwa einem Schlaf-Attest für die letzten Monate. Die Schüler unterscheiden sich quasi nur noch durch die Anzahl ihrer Einsen, die sie in Form der Mitarbeitsnoten für eine erfolgreiche Abfrage bekommen. Ich musste in Geschichte mal etwas über Mönche und Klöster erzählen. Zwar wusste ich noch etwas aus der letzten Stunde, aber wer keinen kohärenten Monolog abliefern konnte, der bekam auch selten eine Note besser als drei. So etwas war ärgerlich, aber zu akzeptieren. Eine Folge unzureichender Vorbereitung. Noch stärker als in Deutschland gibt es in tschechischen Schulen klares Schwarzweißdenken. Wenn etwas halbwegs den Normen entsprach, dann erntet der Schüler eine Eins, wenn er sich weigert, bekommt er manchmal eine Vier, woraufhin er dann wochenlang eingeschnappt ist, öfter während des Unterrichts “zur Toilette geht“, nur um diesem fernzubleiben oder nicht mehr mitschreibt. Die Vier ist ein Schreckgespenst für die Tschechen und wird wie eine Sechs in Deutschland behandelt, obwohl es ja noch die Fünf in Tschechien gäbe. Das ist alles ein wenig schwierig nachzuvollziehen, wenn man aus Deutschland kommt und die Zwischentöne jahrelang miterleben konnte. Man kann so weit gehen und behaupten, in Tschechien gäbe es nur zwei Noten. Wenn ich bei einer Abfrage etwas weiß oder mich mehr als drei Mal pro Stunde melde, bekomme ich bereits eine Eins. Wenn ich eine alles andere als erstklassige Turnübung abliefere – krumme Beine und Umfaller inklusive –, bekomme ich eine Eins. Aus diesem Meer an Einsen muss der Lehrer vor der Notenabgabe dann entscheiden, wie er die Schüler unterscheidbar macht, denn wenn jeder eine Eins hat, hat keiner eine. Schulnoten sind wie Geld; sie bekommen erst im Verhältnis zu anderen einen Wert. Die Vergabe von Einsen ist inflationär. Schlussendlich entscheidet also die Quantität der Einsen über die wahre Note. Am Ende dieser langen Kette steht das gleiche Ergebnis wie in Deutschland. Es ist bei weitem umständlicher und gaukelt den Schülern vor, sie seien allesamt exzellent. In Tschechien lässt man sich mehr Zeit, zieht andere Methoden zurate, kommt aber aufs Gleiche raus. Und wenn die Lehrer die Strapazen akzeptieren, wer wäre ich dann, zu richten?
Wir waren beim Englischunterricht. Dort beobachtete ich eine starke Diskrepanz bei der Ausbildung der Lehrkräfte. Die Problematik war insofern bedeutsam, als es zu einer Fehlervererbung führen kann. Wenn fundamentale Defizite bei der Zielsprachenkompetenz bestehen, ergeben sich zwangsläufig auch Lücken bei der Folgegeneration. Es kann sich dabei um Kleinigkeiten wie die Aussprache von „iron“, „sword“ oder „Edinburgh“ handeln, weitet sich jedoch umso weiter aus, je weniger Augenmerk auf die Korrektheit des Gesagten und Geschriebenen gelegt wird. Wenn daraus kein Fehlereingeständnis, sondern Eingeschnapptheit resultiert, ist eines der grundlegenden Bildungsziele verfehlt.
Nicht mit jedem Lehrer funktionierte die Zusammenarbeit. Das ist unvermeidlich, wenngleich nichtig, solange es genug Lehrer gibt, mit denen man sich nicht überwirft. Solche Vorkommnisse sind ärgerlich, doch mit der direkten Aufkündigung jeglicher weiteren Zusammenarbeit konnte diesem Problem adäquat beigekommen werden.
Irgendwann um die Weihnachtszeit ging die Schnelligkeit der ersten Wochen bis Monate über in einen gleichbleibenden, berechenbaren Trakt. Ein paar Stichtage gab es, doch im Großen und Ganzen war es primär die nächste Stunde, auf die man sich vorbereitete. Das zwar jeden Tag aufs Neue, doch es gab keine großen Schwankungen, sodass man die wenige Zeit, die blieb, wenigstens noch nutzen konnte. Anders als in einem Unternehmen arbeitet ein Lehrer nicht an Projekten, sondern auf einer Dauerbaustelle. Es gab immer etwas zu tun. In der Schule gibt es keine Ebbe und Flut, sondern einen konstanten Pegel. Findet sich der Mensch in einer Routine wieder, neigt das Zeitempfinden zur Veränderung. So zogen die Wochen nur so an einem vorbei, man selbst war nur noch Zuschauer, wie ein Passagier auf dem Bahnsteig, der den vorbeifahrenden Zug beobachtet. Man hangelt sich von Wochenende zu Wochenende. Trotz der Vorbereitung – es war irgendwann nur noch ein Automatismus. Unterbrochen von Exkursionen und Ausflügen, sodass selbst in der vielleicht träge erscheinenden Alltagswelt Abwechslung gegeben war. Einzigartige Erfahrungen wie die Fahrradtour, aber auch eine Skiausfahrt ins Adlergebirge – all das durfte ich miterleben. Es kam folglich zwar Routine auf, doch nie Langeweile oder gar Zwang. Lediglich die Zeit verging schneller. Was durchaus sein Gutes hatte, denn inmitten des Schuljahres konnte es schonmal zäh werden. Man ist weder in schuljahresbeginnlicher Aufbruchstimmung noch in Endzeitvorfreude, sieht, wie ich beim Schlosslauf, nur den Berg, der noch vor einem ist, dabei hat man ihn erreicht, ehe man sich's versieht.
Die Wintermonate waren nicht die einladendsten. Ohne Auto merkt man erst, wie abweisend die Außenwelt sein kann. Seit ein paar Jahren gibt es in Tschechien ein neues Gesetz, das die Schneeräumung im Winter regelt. Zuvor war es die Aufgabe der Anwohner oder Gebäudeeigentümer, den Schnee auf dem Trottoir zu räumen. Das funktionierte auch. Es gab Kontrollen und Strafen. Dann ging die Verantwortung jedoch an die Stadt über, deren Winterdienst allerdings, sagen wir, nicht optimal arbeitet. Soll heißen der Gehweg war vereist, mehrere Zentimeter dick, es gab Rinnen, Löcher, doch keinen Winterdienst weit und breit. Die Stadt spricht sich ungern selbst Bußgelder aus, also wird es totgeschwiegen und nichts gemacht. Vielleicht war es auch nur ein Konjunkturprogramm für das örtliche Krankenhaus und die Klinik. Viele alte Leute gingen denselben Weg. Und so ein paar neue Hüftgelenke spülen durchaus ein paar Kronen in die Kasse.
Der Frühling war in dieser Hinsicht eine Zeitenwende. Alles ging unbeschwerter, es waren nicht mehr mehrere Schichten Kleidung vonnöten und erstmals konnte man den Sportunterricht draußen im eigenen Leichtathletikstadion abhalten. Man hatte dadurch ganz neue Möglichkeiten und konnte fortan wieder etwas mehr in Richtung Ausdauer gehen. Eine Disziplin, die während der Wintermonate ein wenig gelitten hatte. Die ersten Meter waren nicht unbedingt die angenehmsten, doch schnell hatte man den Dreh wieder raus. Und besser als nur rumzusitzen und den Schneeflocken beim Fallen zuzuschauen war es allemal.
Als es auf den Sommer und somit das Schuljahresende zuging, war eine Mischung von Notengebungsstress auf Lehrerseite und Müdigkeit auf Schülerseite bestimmend. Mit der neunten Klasse war sowieso nichts mehr anzufangen, da diese nur noch die weiterführende Schule im Kopf hatte und auch die anderen Schüler konnten sich mehrheitlich nicht mehr wirklich für den Unterricht begeistern. Mit ein paar letzten Tests wollten die Lehrer die Motivation steigern. Da ich beim Korrigieren half, hatte ich auch einen groben Überblick. Man sah genau, wer zwischen zwei Noten stand und wer nur herumkritzelte, um Zeit totzuschlagen. Es mag in der Natur des Menschen liegen, Aufwand an Erfolgsaussichten zu koppeln. So war in den letzten Wochen das Tempo raus. Sportlich ging es dafür rund. Es gab mehrere Wettkämpfe, die ich allesamt begleiten durfte. In Anbetracht des gesamten Schuljahres war es ein passender Abschluss, denn mit Sport fing es an und mit Sport sollte es enden. Alle Schüler waren im Stadion versammelt, halfen mit, statt in den Klassenzimmern zu schmoren.
Möglicherweise lag es an den wenigen Ferien während des Schuljahres, die dazu führten, dass die Zeit so schnell verging. Ganze zwei Monate sind es im Sommer, die frei sind. Mehr als in Deutschland, dafür gibt es kürzere Ferien das Jahr über. Auf diese Weise kann das Schuljahr schon im Juni enden. Von mir aus hätte es noch weitergehen können, denn die Arbeit in der Schule empfand ich nie als außerordentlich anstrengend. Klar, es war recht aufwendig, doch auf einer akademischen Ebene war es eindimensional. Immerhin sah man in mir mehr als einen Roboter. Ich konnte die Schwerpunkte selbst festlegen. Dass ich primär Grammatik-Elemente übernahm, sei ein Novum gewesen, wie mir meine Koordinatorin mitteilte. Zuvor habe der Fokus mehr auf Spielen gelegen. Allein, ich spiele nicht. Das war nie meine Domäne. Beim Schwimmen gab es durchaus ein paar Mal eine Staffel, doch wichtiger war der korrekt ausgeführte Kraulschlag, die Atemfrequenz, Dinge, die nicht unbedingt leicht auf Tschechisch zu erklären sind. Die Gestaltungsfreiheit ist einerseits eine Notwendigkeit, andererseits ein großes Privileg. Der Vorgesetzte saß zwar stets einige Meter neben mir, doch da abgesprochen war, was ich machen würde, konnte ich von da an den Unterricht selbstständig leiten. Nicht selten war eine tschechische Erläuterung der Lehrerin notwendig, doch beinahe nie ging es um Praktiken, um Didaktik, kurz: die Art, wie ich meinen Unterricht führe. Deshalb schwand nie die Motivation, sich auch fortan weiterzubilden und vorzubereiten. Stets war die Gewissheit da, dass das, was ich mache, jemandem nützt und von jemandem wertgeschätzt wird.
Der Lohn für all das ist nicht greifbar, denn er ist unbezahlbar. Es ist Erfahrung. Ein Gut, dass sich fast ausschließlich durch Zeit verdienen lässt. Zeit und Fehler lehren, wie es geht. Als Lehrer betrifft das unzählige Teilaspekte. Man lernt so triviale Dinge wie sparsames Drucken, aber auch, wie man eine neue Zeitform einführt. Man lernt, welche Kompetenzen man bei Arbeitsblättern fordern sollte, aber auch, dass manche Kinder noch nie in ihrem Leben ein Wörterbuch benutzt haben, folglich, dass man einen Kurs zur Verwendung eines Wörterbuchs voranstellen hätte sollen. All das eben, was einem nur die Realität zeigen kann, auf was einen indes auch kein Studium vorbereiten kann. Um auf einen vorher genannten Punkt zurückzukommen: in diesem Jahr habe ich einiges über das „Wie“ gelernt. Das „Was“ steht mir noch bevor, doch das ist alles erlernbar, das steht in Büchern. Wie viele Aufgaben in 15 Minuten zu schaffen sind, welche Vokabeln man beim Sprechen verwenden kann, oder wie man graphisch den Unterschied zwischen „since“ und „for“ erklärt – das sind Dinge, die man sich dagegen nur auf Basis von Erfahrung aneignen kann.
Das Projekt war passend, da es im Gegensatz zu anderen nicht nur forderte, sondern auch förderte. Ich meine, zum Fensterputzen muss ich nicht nach Tschechien reisen. Ungemein viel durfte man erleben und lernen. Es war mehr gefragt als Anwesenheit um der Anwesenheit willen; dafür war man frei in seinem Handeln, es gab keinen bedingungslosen Gehorsam, sondern Kooperation auf einer Ebene. Insgesamt herrschte ein gutes Arbeitsklima. Man grüßte sich auf dem Gang, wurde gegrüßt, in der Schule wie in der Stadt, man war einander nicht fremd, sondern freundschaftlich gesinnt, trotzdem professionell, wenn es gefragt war. Nie litt die Qualität des Unterrichts, denn oberste Priorität hatte auch weiterhin trotz meiner Inklusion der Erfolg der Schüler. Denn in ihm spiegelt sich der Erfolg des Lehrers wider, darin zeigt sich, ob die neue Zeitform beherrscht wird, ob die Vokabeln sitzen – ob man gut erklärt oder nur geschwafelt hat. Neben der Theorie des Sprachunterrichts kam die aktive Zeit dennoch nie zu kurz. Ob morgens um acht oder nachmittags um vier – Sport blieb immer der Fokus, wenngleich mir die Sportstunden die unliebsamsten waren. Zweimal ging man ins Adlergebirge – einmal mit dem Fahrrad, einmal mit den Skiern. Nicht zu ersetzen sind diese Erlebnisse. Man stürzte sich ins Abenteuer, ohne jedoch verloren zu sein, denn immer gab es fähige Kollegen, auf die man sich verlassen konnte.
Nichts ist vollkommen gut, nichts vollkommen schlecht. So muss man das Projekt auch nicht in Watte packen. Es hatte seine Schwächen ebenso wie es Stärken hatte. Im Großen und Ganzen bin ich recht zufrieden mit dem Ergebnis.