Lebende Türme
Die Menschentürme Kataloniens - Ein Geheimtipp, um Land und Leute kennenzulernen, ein Ausdruck von Zusammenhalt und Vertrauen und einfach nur schön anzusehen. Nicht umsonst bekamen sie dieses Jahr eine besondere Auszeichnung.
In der ersten Zeit meines Aufenthaltes in Olot suchte ich, wie ich es mir vorgenommen hatte, nach Möglichkeiten, Bekannte und Freunde zu finden, Land, Leute und Kultur kennenzulernen, in einer Gruppe Sport zu treiben und mich insgesamt ein wenig in das katalanische Leben zu integrieren. All diesen Dingen bin ich mit einem Schlag erheblich näher gekommen, als ich zum zweiten Mal sah, wie sich Menschen in einheitlich gefärbten Hemden und weißen Hosen übereinander stapeln, mich dies wie beim ersten Mal ergriff und ich den nächsten Menschenturmbauer in rotem Hemd fragte, wie ich mitmachen könne.
Weil die Antwort so einfach und einladend war, fand ich mich beim folgenden Training auch schon im Vereinsgebäude der „Xerrics“ unter zwei auf mir hochgekletterten Mädchen wieder.
Am darauf folgenden Wochenende fand eine Vorstellung von Menschentürmen eines befreundeten Vereins statt, zu der der Verein aus Olot eingeladen wurde und so durfte ich auch mitkommen, um in der „Pinya“ zu helfen. Die Pinya, katalanisch für Pinienzapfen, ist die Basis, also das unterste und erste Stockwerk eines jeden Menschenturms; ohne Pinya, kein Menschenturm, beziehungsweise keine Burg, denn „els castells“ oder „los castillos“ bedeutet ja eigentlich „die Burgen“.
Wenn man von außerhalb einen Menschenturm betrachtet, ist es etwas vollkommen anderes, als wenn man innerhalb der Pinya die eng zusammenstehenden Menschen, die von allen Seiten herrschende Kraft und die verzogenen und schnaufenden Gesichtsausdrücke erleben kann. Einen Menschenturmbauer mit Berührungsängsten hat es noch nicht gegeben. An allen Stellen des Körpers wird gestützt, gestärkt, gesichert und gedrückt, damit der Turm stabil ist.
Die an einem Menschenturm beteiligten Personen können zwar nicht sehen, in welcher Phase sich der Turmbau gerade befindet, denn auch in der Pinya muss man den Kopf nach unten gerichtet, am besten auf die Schultern des Vordermannes gelegt haben, doch die immer begleitende Musikgruppe, bestehend aus Trommeln und Gralla genannten Flöten, spielt auf den Turmbau abgestimmte Musik, sodass man immer weiß, wie weit der Turmbau vorangeschritten ist.
Mir wurde schnell klar gemacht, dass man sich das rote Hemd des Vereins verdienen muss, denn darauf wird viel Wert gelegt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass neue Mitglieder, wie ich, minderwertig oder ausladend behandelt werden, sondern ganz im Gegenteil: Aufgrund der überaus herzlichen Gastfreundschaft und der Einbeziehung in alle Aktivitäten des Vereins, die auch mal nichts mit Menschentürmen zu tun haben, fühle ich mich wie ein vollwertiges Mitglied und als Teil dieses großen Freundeskreises.
Mittlerweile trage ich als unteres Stockwerk einen 3 stöckigen Pilar (Pfahl, 1 Person pro Stockwerk) und 4-5 stöckige Türme mit 2 bis 4 Personen pro Stockwerk. Bei Vorführungen bin ich allerdings in der Pinya.
Die Höhe unserer Türme beträgt maximal sechs Stockwerke, wobei bereits zweimal in der Geschichte der nun 9 Jahre bestehenden Xerrics (sprich: Tscherrieks, katal. für die Kleinen) ein Turm von sieben Stockwerken aufgebaut wurde. Beim Abbau sind die Türme zwar eingestürzt, doch es zählt auch schon viel, wenn ein Turm fertig aufgebaut wird, also wenn der oder die so genannte „anchaneta“, das Kind, welches das oberste Stockwerk bildet, die Hand hebt und beginnt, auf der anderen Seite wieder herunter zu klettern, doch ist das Gesamtwerk natürlich erst perfekt gelungen, wenn ein Turm auch wieder abgebaut wird. Nicht, dass ein Einsturz normal sei, doch wenn die großen Vereine versuchen, Türme von 9 oder sogar 10 Stockwerken zu bauen, kann es durchaus passieren. Die Xerrics von Olot hatten dieses Jahr zwei Einstürze.
Wenn schon von Menschentürmen gesprochen wird, die das Maximum an Höhe, also 10 Stockwerke erreichen, muss an dieser Stelle natürlich auch erwähnt werden, dass im November bei der letzten großen Vorführung des Jahres die „Minyons de Terrassa“ diesen legendären „3 von 10“-Menschenturm gebaut haben, einen Turm mit 10 jeweils aus drei Menschen bestehenden Stockwerken. Ich war mit Freunden aus dem Verein dort und durfte mir dieses besondere Schauspiel live anschauen. Zum ersten Mal wurde ein solcher Turm im Jahre 1998 gebaut und seit dem nur wenige weitere Male.
Ein weiterer Grund, nicht nur bei dieser Veranstaltung ordentlich zu feiern, war die kürzliche Erklärung der „castells“ zum Weltkulturerbe der UNESCO. Zusammen mit anderen Traditionen Spaniens, dem Flamenco, der mediterranen Küche und dem mallorquinischen Sibyllen-Gesang wurden am 16. November auch die Menschentürme in die Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Ein seither beliebter Spruch unter uns Menschenturmbauern ist: Som patrimoni de la humanitat. Wir sind Weltkulturerbe.
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